»Ich bin verzweifelt optimistisch«

Was kommt nach der Gewerkschaft? Ein Gespräch mit ulf kadritzke, Soziologe an der Fachhochschule für Wirtschaft in Berlin

Der Metallerstreik ist kläglich gescheitert. Sind die Gewerkschaften am Ende?

Die Flächentarifverträge sind ja nicht nur etwas Schädliches für die Planungsprozesse des Kapitals. Es kommt sehr darauf an, ob die Kräfteverhältnisse so bleiben, dass das neoliberale Dogma greifen kann. Bislang heisst die Devise ja, zuerst kommen die Reformen und dann können auch die arbeitenden Klassen wieder ein bisschen mehr Geld erwerben. Wenn es wegen der schwachen Konjunktur nichts mehr zu verteilen gibt und die working poor sowie die Arbeitslosen zum Normalfall werden, wie das im Osten ja nur exemplarisch geschehen ist, dann könnten die Gewerkschaften tatsächlich nachhaltig geschwächt werden.

Den Unternehmern ist es aber offensichtlich auch gelungen, die Gewerkschaften in der öffentlichen Meinung für die schlechte wirtschaftliche Lage verantwortlich zu machen.

Ja, aber das wird niemandem weiterhelfen. Die Unternehmer sollten einfach mal eine Lohnpolitik ohne Flächentarifvertrag ausprobieren. Dann würden sich vermutlich die Interessen auch auf der Kapitalseite neu ordnen. Es könnte sich nämlich zeigen, dass Großunternehmen anfälliger gegenüber militanten Streiks und Betriebssyndikalismus werden. Aber die meisten Unternehmer wollen den Gewerkschaften nicht gleich den Todesstoß versetzen, weil man sie noch braucht. Die Gewerkschaften nachhaltig zu schwächen, das dürfte hingegen schon ein Ziel sein.

Welche sozialen Folgen könnte der zunehmende Machtverlust der Gewerkschaften zeigen?

Ich bezweifle, dass die Verfechter des neoliberalen Modells sich wirklich der sozialpsychologischen Konsequenzen dieses Vorgangs bewusst sind. Denn sie konstruieren in ihrem Weltbild eine ideale Mittelklasse nach angelsächsischem Muster, die individualistisch handelt und sich leicht ruhig stellen lässt. Wenn es tatsächlich diese bequeme Mittelklasse gäbe, die auch dem Bild allseitiger Mobilität entspräche, dann würden solche Experimente vielleicht auch gelingen. Aber das ist nicht die Realität, die Geduld der Menschen muss nicht ewig anhalten. In Frankreich zeigt sich das gerade beispielhaft.

Wie hoch ist der Anteil der Arbeitsverhältnisse inDeutschland, die nicht an kollektive Vereinbarungen gebunden sind?

Die Veränderungsprozesse sind dramatisch, und das macht aktuelle Zahlenangaben kaum möglich. Bislang wird viel übertrieben. Die meisten Löhne in regulären Arbeitsverhältnissen orientieren sich nach wie vor an dem jeweiligen Tarifniveau der Branche. Bei den niedrigen Lohngruppen wird es dann in jeder Hinsicht prekär. Hinzu kommt: Nicht nur die Sozialsysteme werden neu gestaltet, sondern auch die Form der Erwerbstätigkeit wird sich nachhaltig verändern.

Einige Soziologen haben ja einen neuen Begriff für diese moderne Form der Selbstständigkeit erfunden, den Begriff des »Arbeitskraftunternehmers«.

Ja, er suggeriert, dass es viele mit Geschick und Flexibilität ausgestattete Arbeiternehmer gibt, die sich als neue Selbstständige gut einrichten. Aber wer ist eigentlich damit gemeint? Die Luxusausgabe davon gibt es in der Medienbranche und in der Werbung, auch Finanzdienstleister und Anwälte zählen dazu. Sie machen bestenfalls zehn Prozent der Berufstätigen aus. Die anderen sind einfach verzweifelte Anbieter ihrer Arbeitskraft, das hat mit einer Existenz als Unternehmer nichts zu tun. Wie will denn dieser so genannte Unternehmer der eigenen Arbeitskraft seine eigenen Kosten senken? Sein Interesse besteht ja darin, einen möglichst hohen Lohn zu bekommen, und nicht darin, seine eigene Arbeitskraft billiger anzubieten. Der Begriff beschreibt zwar auf originelle Weise einen Wandel in der Arbeitswelt, ist aber zu undialektisch.

Ist die Entwicklung einer liberalisierten und individualisierten Arbeitsgesellschaft, etwa nach britischem Vorbild, überhaupt noch aufzuhalten?

Die Entwicklung wird bisherige soziale Bindungen tatsächlich auflösen, und zwar schubweise. Die Frage ist, ob sich die wachsende Desintegration beliebig steigern lässt. Die unteren Klassen und die neue Mittelschicht könnten im eigenen Interesse darauf bestehen, dass die Gesellschaft zumindest ein bestimmtes Maß an sozialer Absicherung erhalten muss. Die alten kollektiven Mechanismen des Handelns werden natürlich auch hier geschwächt. Welche organisatorischen und politischen Formen dieser Protest annehmen könnte, ist höchst ungewiss.

Die Bevölkerungsmehrheit verhält sich sehr ruhig.

Sicher, aber in einer verschärften Situation werden auch neue Entwürfe entstehen. Die zunehmende Privatisierung des Risikos kann auch den Beteiligten vor Augen führen, dass sie gerade unter dem Druck flexibler Lebensweisen kollektive Formen der Absicherung brauchen. Die Frage ist, ob die leistungsorientierten Mittelschichten noch eine gemeinsame Position mit den übrigen Lohnabhängigen vertreten werden. Oder ob sie sich langfristig, gerade in der Krise, mit ihrer Leistungsideologie umso schärfer von den unteren Klassen distanzieren. Entweder indivuelle Flucht oder kollektive Gegenwehr, dass ist die Perspektive.

Aber wieso regt sich so wenig Protest? Weder gegen die Agenda, noch gegen die so genannte Gesundheitsreform gibt es Widerstand.

Die meisten durchschauen doch beispielsweise die Gesundheitsreform als eine Form des Klassenkampfes. Trotzdem herrscht eine völlige Alternativlosigkeit, weil niemand mehr diese Systeme durchblickt und alles von so genannten Experten erklärt wird. Es ist ja gut gelungen, das Wort »Reform« jeglichen Inhalts zu entkleiden. Reform war ja früher die milde Variante der Revolution, ausgehend von einer radikalisierten bürgerlichen Gesellschaft. Heute bedeutet es das genaue Gegenteil.

Erleben wir gerade den Höhepunkt dieser Entwicklung?

Wir erleben gerade ein praktisches Experiment, Friedrich Merz von der CDU beispielsweise führt es meisterhaft vor. Mal möchte er fast die Gewerkschaften verbieten, dann den Tarifvertrag aus dem Grundgesetzkatalog streichen. Und dann sieht er nach , wie vehement der Widerstand ausfällt. Die Positionen werden verschoben und eine Ende ist überhaupt nicht abzusehen.

Was wäre die Alternative?

Leider findet eine Diskussion, zumal nach dem gescheiterten IG-Metall-Streik im Osten, über eine radikale Arbeitszeitverkürzung überhaupt nicht mehr statt. Dabei wäre sie als Auseinandersetzung über moderne Formen des Verteilungskampfes überfällig. Aber diese Diskussion wird wieder kommen. Da bin ich verzweifelt optimistisch.

interview: anton landgraf