Das rollende Büro

Die neuen Formen der Arbeitsorganisation schaffen prekäre Verhältnisse und setzen die Beschäftigten unter permanenten Leistungsdruck. von anton landgraf

Sie sind jung, gebildet und stecken voller Ideen? Sie brauchen keine Vorgesetzten, gründen gerade eine Ich-AG und halten August Bebel für einen hessischen Weinlokalbesitzer? Dann sind Sie angekommen in der Welt der neuen Selbstständigen, der prekären Jobs, der Arbeit ohne Garantien.

In einem rasanten Tempo werden die Sozialsysteme umgebaut, die Arbeitsverhältnisse neu organisiert, die Lebensläufe auf den Kopf gestellt. »Bewegung«, »Stillstand« und »Veränderung« sind die am häufigsten genannten Begriffe in der Agenda 2010, und es gibt kaum einen Politiker, der derzeit ohne einen Hinweis auf die »verkrusteten Strukturen« auskommt und nicht eifrig den »Reformstau« geißelt.

Doch die permanenten Forderungen nach mehr »Flexibilisierung« und »Eigenverantwortung« ignorieren geflissentlich, dass viele Beschäftigte bereits nach diesen Kriterien arbeiten müssen. Was sich zunächst nach mehr Selbstbestimmung und lockeren Arbeitszeiten anhört, erweist sich schnell als das genaue Gegenteil. »Wie Sie die Arbeit machen, ist uns egal – Hauptsache, das Ergebnis stimmt«. Dieser Satz gehört mittlerweile zum festen Repertoire eines Vorgesetzten.

Der Feierabend wird so zu einer flexiblen Größe, die sich nach Belieben bis in die Nacht und in das Wochenende verschieben lässt. Gleitende Arbeitszeiten, das rollende Büro mit Laptop und Standleitung, wechselnde Teams und Mitarbeiter sollen die eigene Motivation erhöhen und steigern doch vor allem den Leistungsdruck und intensivieren die Arbeit. »24/7«, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, hat der selbsternannte Zukunftsforscher Jeremy Rifkin diese Anforderungen in einer knappen Formel zusammenfasst.

Wer nun denkt, dass diese Verhältnisse nur in New-Economy-Betrieben anzutreffen sind, liegt falsch. Zwar entsprechen die neuen Selbstständigen in Start-up-Unternehmen, in der Werbe- oder Medienbranche dem Bild der new professionals: jung und kreativ sind sie, und nachdem der Job erledigt ist, gibt es den Wochenendtrip nach London zur Belohnung. Doch mit dem kläglichen Ende des Neuen Marktes und dem schmachvollen Abgang der New Economy sitzen viele nicht mehr in noblen Lofts, sondern einfach auf der Straße.

Dennoch durchdringen die neuen Formen der Arbeitsorganisation mehr und mehr den Alltag. Wer bislang einen vielleicht langweiligen, aber garantierten nine to five-Job hatte, wird mit unangenehmen Innovationen aus der Chefetage konfrontiert. Plötzlich werden aus gewöhnlichen Abteilungen so genannte Profit Center, die genaue Zielvorgaben erhalten. Oder sie werden gleich als selbstständige Firma ausgegliedert. Stimmen die Ergebnisse nicht, bekommen beim nächsten Mal eben die Kollegen von der Konkurrenz den Auftrag.

Auch in der öffentlichen Verwaltung sowie in den Hochschulen und im Gesundheitswesen werden nach und nach Prinzipien eingeführt, wie sie beispielsweise in der Automobilindustrie schon lange praktiziert werden. Flache Hierarchien, Projektgruppen und genaue Leistungskontrolle organisieren auch den letzten verstaubten Arbeitsplatz neu. An die Stelle der direkten Kontrolle durch den Vorgesetzten tritt die Selbstkontrolle. Der Job ist nur so lange garantiert, wie der Nachweis gelingt, dass man tatsächlich gebraucht wird und Profit erwirtschaftet. Und dieser Beweis ist täglich zu erbringen. Dienst nach Vorschrift, der blaue Montag und öfters mal krankfeiern – die vielfältigen Methoden der privaten Arbeitsverweigerung funktionieren nicht mehr, wenn die eigene Leistungsfähigkeit permanent bewiesen werden muss.

Noch gravierender wirken sich die neuen Formen der Arbeitsorganisation auf die unteren Lohngruppen aus. Nach und nach werden die Prinzipien auf andere Arbeitsgebiete übertragen. Während früher Honorarjobs, Zeitarbeit, Projektaufträge oder Subunternehmen für eine kleine Schicht von Akademikern, Künstlern und Medienschaffenden charakteristisch waren, sind sie nun auch bei ehemals einfachen Angestellten und Arbeitern anzutreffen.

Besonders grotesk wirkte ein Vorschlag der Berliner Verkehrsbetriebe, die angestellten Busfahrer als selbstständige Subunternehmer weiter zu beschäftigen. Den Bus sollten die Entlassenen als Abfindung erhalten. Die Idee wurde zwar von den Beschäftigten dankend abgelehnt, aber in vielen Branchen, auf dem Bau, im Sozialwesen oder im Bildungsbereich, sind ähnliche Formen der selbstständigen Weiterbeschäftigung mittlerweile üblich.

Selbst Arbeitsformen, die man eigentlich im vorletzten Jahrhundert vermutete, werden plötzlich wieder aktuell: Tagelöhner und stundenweise Beschäftigung auf Abruf. Die permante Unsicherheit, die solche Arbeitsverhältnisse erzeugen, zwingt zu einer höheren Leistungsbereitschaft. Der Verkauf der eigenen Arbeitskraft wird immer weniger durch kollektive Regelungen organisiert, sondern unterliegt der eigenen Initiative. Nicht mehr »Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps«, sondern der fließende Übergang von Arbeit und Freizeit prägen das Leben der neuen Selbstständigen.

Um der permanenten Forderung nach höherer Leistung, flexibler Organisation, Mobilität, Weiterbildung und Verkauf der eigenen Arbeitskraft zu genügen, muss auch das private Leben gewissermaßen wie ein Unternehmen organisiert werden: Effizient strukturiert, möglichst unter Ausschluss solch störender Ereignisse wie Krankheit, privater Krisen oder übermäßiger Ausschweifungen aller Art.

Das sind Anforderungen, die von allen Beteiligten oft ein hohes Maß an Kreativität erfordern. Denn die neue Arbeitswelt wirbelt die private Existenz durcheinander. Wer flexibel arbeitet, hat häufig einen mobilen Lebensstil. Nichts ist mehr lebenslänglich garantiert, ob Job, Beziehung oder der Wohnort. Die aktuelle »Reformdiskussion« begleitet diese Entwicklung oder versucht in vielen Fällen nur nachträglich, gesetzlich zu legitimieren, was bereits Praxis ist.

Die Agenda 2010, die Gesundheitsreform und die so genannte Lockerung des Kündigungsschutzes weisen in dieselbe Richtung. Die Arbeits- und die Sozialpolitik werden liberalisiert, die Risiken privatisiert. Eine Entwicklung, die fast wie eine unfreiwillige Parodie des Kommunistischen Manifestes wirkt: »An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation«, heißt es dort, »worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die Entwicklung aller ist.«

Übrig bleibt davon vorerst nur eine unfreiwillige Assoziation der Vereinzelten auf dem Arbeitsamt. Und die Frage, wie unter diesen Bedingungen überhaupt noch gemeinsame Interessen formuliert und durchgesetzt werden können. Denn in dem Maße, wie sich die Bedingungen verschlechtern, steigt die Hoffnung auf den individuellen Aufstieg. Während sich die Proteste gegen den Sozialabbau mangels Beteiligung einfach auflösen, finden selbst Linksradikale plötzlich Gefallen an der Gründung einer Ich-AG.

Dass es nicht so bleiben muss, zeigt der aktuelle Streik der Künstler in Frankreich. Auch in prekären Verhältnissen ist es durchaus möglich, Forderungen nach sozialer Mindestabsicherung durchzusetzen. Dass sich in den kreativen Berufen der Unmut besonders regt, ist dabei kein Zufall. Trotz schlechter Bezahlung und mangelnder sozialer Sicherheit verfügen sie über ein besonderes Kapital. Die Kreativen sind in der Regel gebildet und selbstbewusst, sie beherrschen Fremdsprachen und neue Technologien und wissen Medienkanäle zu nutzen. Sie werden dennoch kaum über ihre spezifischen Forderungen hinausweisen, wenn es nicht gelingen sollte, die allgemeine Frage wieder aufzuwerfen: Wie ist ein gutes Leben für alle möglich?