Stones & Stories

Ein Konzertbericht aus Berlin von der Licks World-Tournee. von rudi thiesen

Die Stones beginnen mit »Brown Sugar«, laut, mit kompaktem, klarem Sound, enorm schnell und machen sofort klar, um was es an diesem Abend geht: um ungemein konzentrierten, geradlinigen Rock. Jagger ist rhythmisch präzise, und plötzlich weiß man wieder, warum man ihn den besten aller Rocksänger nennen konnte. Keith Richards hält sich noch etwas zurück, kontrolliert und dirigiert die Band. Das wäre nicht erwähnenswert, weil schlicht das Übliche, würde er nicht schon im zweiten Song, »Start Me Up«, diese Haltung aufgeben. Von nun an und das ganze Konzert hindurch spielt er außergewöhnlich viel, teilt sich mit Ron Wood nicht nur Lead- und Rhythmusgitarre, sondern die beiden legen mit großer Spielfreude Gitarrenbögen übereinander, spielen Duette. Jagger ist wieder hinreißend und das Publikum hingerissen. Es folgen »If You Can’t Rock Me«, mit einem wunderbaren Gitarrenduett, ein neuerer Song, »Don’t Stop«, durch den das Publikum, mangels Wiedererkennungswert, abschlaffen könnte, was die Stones mit einem einfachen Trick kontern; Jagger hängt sich eine Gitarre um den Hals und demonstriert Rock, nichts als puren Rock.

Man geht in ein solches Konzert nicht ohne Erwartungen, und natürlich hat man manches gelesen über die anderen Auftritte während der Tournee. Allerdings war das meiste davon so offenkundig unverständig oder gar dämlich, dass es keinerlei Erwartungen wecken konnte, weder positive noch negative. Doch ein Berichterstatter vom Müchner Konzert im Zirkus Krone hatte Interesse geweckt. Er beschrieb, wie die Stones scheinbar unzusammenhängend vor sich hin musizierten, um dann wie durch ein Wunder auf dem Punkt zusammen zu sein. Das könnte, wenn auch mit völlig anderen Sounds, den Intros verwandt sein, mit denen Bob Dylan uns seit Jahren erfreut. Und der Kritiker glaubte zu hören, dass Charlie Watts nur noch jeden zweiten Takt spielt. Beides hätte mich brennend interessiert, aber von beidem war im Berliner Konzert rein gar nichts zu hören. Die Stones jeweils vom ersten Takt an voll auf dem Punkt, und Charlie Watts trommelte, als befände er sich auf einem Konzert in memoriam Keith Moon. Offenkundig haben die Stones für diese Tournee verschiedene und zwar sehr verschiedene Konzertkonzepte. Dass die Stones immer gleich klingen würden, gehört zu den eintönigen Standards der Kritik und ist wohl spiegelbildlich dem Vorwurf: Dylan klingt gar nicht wie Dylan. Und genauso dämlich. Selbstverständlich erkennt jeder, der Ohren hat, einen Stones-Song nach den ersten Takten – aber deswegen ist es doch noch lange nicht immer dasselbe Zeug (so wenig wie bei Mozart).

Wer sich durchs Werk hört, dem muss zweierlei auffallen. Nach den ersten vier Platten, Studium der R&B-Klassiker und Präludium des eigenen Werkes zugleich, verfolgen die Stones mit jeder weiteren ein neues musikalisches Konzept, eine andere Idee von Song und Sound. Auf die schroffe, Autarkie betonende »Aftermath«, folgt die englischste ihrer Platten »Between The Buttons«, darauf das Hippie-Experiment »Their Satanic Majesties Request« und diesem ihre völlige Aufhebung mit »Beggars Banquet« als hoch aktualisiertem R&B. Wenig später dann die amerikanische »Sticky Fingers«, der wiederum ein völlig anderer Sound, mit »Exiles On Main Street«, Garagenrock auf höchstem Niveau, folgt. Und so ging das weiter. Und wer sich des Live-Werks erinnert, der sollte sich nicht von den Stones selbst auf die falsche Fährte locken lassen. Zwar touren sie seit Anfang der siebziger Jahre als älteste, härteste und beste Rockband der Welt, doch erst seit sie sich primär als Liveband verstehen, also mit Rocks Off, Anfang der achtziger Jahre, werden die Konzerte zu etwas gänzlich anderem als live gespielte Studiomusik. Sie werden zur eigenen Kunstform.

In Berlin folgten die Balladen. Keith Richards nimmt sich die akustische Gitarre und begleitet Mick Jagger zu »Wild Horses«, und der singt, als wären die letzten dreißig Jahre spurlos an seinen Stimmbändern vorbeigegangen, in den Refrains begleitet von einer zweiten Stimme Keith Richards, die ihn ausweist als jenes Talent, das als Bub im Chor der Westminster Abbey zum Anlass der Krönung der Königin gesungen hat. Dann eröffnet eine einsame Posaune, sie ersetzt den Bach-Chor der Studioaufnahme, »You Can’t Always Get What You Want«. Jagger animiert das Publikum, den Refrain zu singen, dies folgt ihm beglückt, und Jagger versucht in seiner Begeisterung, Richards zu animieren, das Publikum zu animieren, zerrt ihn neben sich an den Bühnenrand, doch der kratzt sich nur verlegen am Kopf und wendet sich ab, um zu seiner Entlastung ein inspiriertes Solo zu spielen.

Danach ist Schluss mit den Balladen, und es folgt »Can’t You Hear Me Knocking«. Hier wird klassisches Rock- (und Jazz-) Ensemblespiel demonstriert. Die Drums zeitweilig sehr jazzig, dazu ein sehr schönes Saxophonsolo von Bobby Keys, immer noch einer der wenigen, der ein Saxophon in einer Rockband zu spielen vermag, ohne die Möglichkeiten seines Instruments zu verraten, dann Jagger mit einem ausgedehnten Solo auf der Mundharmonika (nach all der Animation geht es auch ihm nur mehr um Musik), dann darf auch Ron Wood (es ist ein wenig wie einst im Marquee, jeder darf mal ran, um sich möglicherweise für einen besser bezahlten Gig zu empfehlen), nur Keith Richards mag nicht und zieht es vor, den Laden zusammenzuhalten. Musikalisch zweifellos ein, wenn nicht der Höhepunkt des Konzerts.

Die Erinnerung an das Marquee verweist darauf, dass die Stones nie eine Teenie-Band waren, nie jugendliche Musik für Jugendliche spielten. Das zeigt sich sehr schön in den Besetzungsentscheidungen, die die Band zu treffen hatte. Als sie einen Schlagzeuger suchten, hatten sie das Glück, dass Charlie Watts jüngst von Jack Bruce aus der Graham Bond Organisation herausgeekelt worden war, um ihn durch seinen Freund Ginger Baker zu ersetzen. Somit hatte die junge Band nicht nur einen exzellenten Drummer, (der aussah, als sei er eine Generation älter), sondern ein etabliertes Mitglied der Londoner R&B- und Jazz-Szene und so mehr als nur einen Fuß in deren Tür. Als man den verstorbenen Brian Jones ersetzen musste, wählte man Mick Taylor, nicht weil er jung und hübsch war, sondern schlicht der Beste unter denen, die zu haben waren. Clapton, Beck, Page, Townsend waren oder fühlten sich als Superstars (und waren viel zu monomanisch, um sich in das Ensemble-Ideal der Stones zu fügen), Ron Wood hatte gerade mit Rod Stewart die Faces gegründet und so blieb das Engagement des Talents, das sich noch in John Mayall’s Trainingscamp befand. Musikalisch für die Stones eine wunderbare Entscheidung, persönlich weniger.

Mick Taylor wollte ein großer Gitarren-Heros werden und fand dafür nicht die Freiheit im Stones-Ensemble, und Keith Richards war genervt, weil er ihn wieder und wieder das gleiche lehren musste: Es geht nicht um dich, es geht um die Band. Als man sich trennte, war Ron Wood frei (Rod Stewarts bedingungslose Kommerzialisierung war zur Zumutung geworden) und die Stones hatten ihre ideale Besetzung. Sie mussten noch einmal wechseln, weil Bill Wyman auf Rente wollte. Die Stones engagierten Darryl Jones aus der letzten Band von Miles Davis, was dem Bass bei den Stones eine Stärke gab, die er live so nie hatte. Auch das war in Berlin zu hören.

Nach »Tumbling Dice«, das verständige Kritiker anlässlich der Jahrtausendwende zum besten Rocksong des Jahrhunderts kürten, stellt Jagger die Band vor (natürlich erhielt Charlie Watts frenetische Ovationen) und zieht sich für zwei Songs zurück: Zeit für »Slipping Away« und »Happy« von Keith Richards. Für eine stetig wachsende Minderheit sind dessen Auftritte als Gesangssolist die wahren Höhepunkte eines Stones-Konzerts. Danach steuert die Konzert-Dramaturgie auf den geplanten Höhepunkt und das Finale zu, was nur teilweise gelingt. Natürlich versetzt »Sympathy For The Devil«, unterstützt von einer beeindruckenden Show, deren Licht von wirklichen Feuerstößen rührt, das Publikum in Ekstase, auch die Verlagerung auf die winzige intime Bühne auf der Gegengerade kommt zum richtigen Zeitpunkt, doch während sie dort »It’s Only Rock ’n Roll«, »Streetfighting Man« und »Midnight Rambler« spielen, bricht der Sound zusammen, und so konnte die Band froh sein, nur drei Songs für die kleine Bühne eingeplant zu haben und rechtzeitig vor drohendem Stimmungsabfall auf der großen Bühne zurück zu sein, wo sie von Lisa Fisher erwartet wurde, die während des langen Weges der Band zurück über den Laufsteg, schon mit einem wunderbar jazzigen Intro zu »Gimme Shelter« begonnen hatte. Lisa Fisher singt, Jagger wiegt sich in ihren Armen und singt, und alles wirkt wie eine hocherotische Inszenierung. Aber da ist noch etwas anderes: Jagger ist nach zwei Stunden wirklich erschöpft und genießt es, sich anzulehnen. Auch als Sänger. Lisa Fisher singt und hält den Song, und Jagger ist so weise, erfahren und musikalisch, dass er einfach ein wenig mitsingt und nicht mal ansatzweise versucht, mit dieser prachtvollen Stimme zu konkurrieren. Mit zwei schnellen, sehr schnörkellosen Rocksongs leiten sie dann das Finale ein: »Satisfaction«. Es ist schon denkwürdig, dass und wie dieser Song nach knapp vier Jahrzehnten noch elektrisiert.

Dann ist Schluss und eigentlich haben alle genug. Doch die Fans halten Zugaben für obligatorisch. Die Band lässt sich nicht übermäßig lange bitten und spielt »Jumping Jack Flash«. Bekanntermaßen ein Klassesong und an der Darbietung wäre eigentlich nichts auszusetzen. Aber als Zugabe nach diesem Konzert enthält er eine Lehre der Band für ihr Publikum: So hätte das Konzert geklungen, wenn wir nicht so viel Spaß und Lust zum Spielen gehabt hätten. Mein Gott, hatten die Berliner, die da waren, Glück.