Ohne Klischee und ohne Wenders

Auf seiner zweiten Soloplatte beweist das kubanische Urgestein Ibrahim Ferrer, dass der »Buena Vista Social Club« nur eine Stufe seiner Karriereleiter war. von alfred hackensberger

Das Märchen vom Aufstieg eines armen, alten Schuhputzers in Havanna zum wohlhabenden Musiker hat einen Namen, der den meisten wohl sofort beim Stichwort »Buena Vista Social Club« (1,5 Millionen verkaufte Platten weltweit) einfallen dürfte: Ibrahim Ferrer. 1995 hatte Ry Cooder eine sanfte Stimme für einen Bolero gesucht, woraufhin ihm Ibrahim Ferrer präsentiert wurde. Der damals 68jährige hatte seine musikalische Karriere eigentlich schon vor Jahren an den Nagel gehängt, verkaufte in Havanna Lose und putzte Schuhe zur Aufbesserung seiner kleinen staatlichen Rente. Hatten die Dinge doch nie so richtig geklappt, wie er sich das vorgestellt hatte. In seiner langen Karriere, die er bereits als 13jähriger mit einer Band begann, die auf Partys in der Nachbarschaft seines Geburtsortes San Luis, unweit von Santiago de Cuba, spielte, durfte er nie oder nur selten das singen, was ihm so am Herzen lag: den Bolero. Ob er nun für Pacho Alonso sang, für die Band von Beny Moré oder bei den Los Bocucos in den sechziger Jahren unter der Leitung von Roberto Correa, mit denen er sogar auf Europa-Tournee ging, immer hieß es: »Das kann doch ein anderer besser.« Ferrer blieb stets im Hintergrund. Von einer eigenen Solokarriere keine Spur. Bis dann eben Ry Cooder und der »Buena Vista Social Club« kamen.

Acht Jahre nach »Buena Vista Social Club« veröffentlicht Ibrahim Ferrer nun sein zweites Soloalbum, »Buenos Hermanos«. Es sind zwar nur zwei Eigenkompositionen auf dem Album zu hören, der Rest sind Interpretationen klassischer, alter Songs, aber diese klingen so frisch, als hätte der Sänger gerade seinen 40. und nicht seinen 76. Geburtstag gefeiert. Ich weiß zwar nicht, wer die Idee dazu hatte, wahrscheinlich die Produzenten Ry Cooder und Nick Gold, was letztendlich auch ganz egal ist, aber die Neuarrangements der Traditionals mit Jazz- und Rockelementen und den für Bolero und Son eher untypischen Instrumenten wie Saxophon, Orgel und Akkordeon, gibt den Songs eine zeitgenössische Wendung.

Vom ersten Ton an ist man nicht auf der erwarteten Museumsfahrt mit dem Opa durch die kubanische Musikgeschichte, sondern fühlt sich eher wie in einer Bar um die Ecke, wo nach ein paar Drinks jeder zur Live-Musik zu tanzen beginnt. Das ganze bitte sich ohne Cuba-Libre-Bacardi-Klischees denken, die einen nach dem »Buena-Vista-Social-Club«–Erfolg vielerorts so plagten.

Der Titelsong »Buenos Hermanos« ist eine Art Hymne an die Musiker-Freunde, an die große Familie Ferrers. Manuel Galbàn, der Mann, der die E-Gitarre in die kubanische Musik einführte, spielt darin ein Orgelsolo, dass einen ganz unweigerlich an alten Santana-Rock erinnert. Beim alten Bolero von Augustin Lara, »Naufragio«, quetscht das Akkordeon des Tex-Mex-Musikers Flaco Jimenez dezent im Hintergrund, was der ganzen Sache einen wunderschön eleganten Charakter gibt. Eleganz ist auch das Stichwort für »Perfume de Gardenias«, eine sentimentale, ja fast kitschige Ballade über die wahre Liebe, garniert mit einem schmalzigen Slow-Sax.

Wunderbar auch »Mil Congjas«, bei dem Ry Cooder und Manuel Galbàn gelassen die Saiten ihrer Gitarren zupfen. Dazu die Stimme von Ibrahim Ferrer, der, ob Bolero, Son oder Salsa, einfach immer die richtige Stimmlage trifft. Er ist derjenige, der das Album mit den vielen unterschiedlichen Stilrichtungen zusammenhält, es zu einem »one-piece-album« macht. Jedes seiner Worte ist eine Aufforderung zum Tanzen, eine Aufforderung, die Welt für einen Song lang zu vergessen, und am besten Wange an Wange das zu zelebrieren, was offensichtlich das Wichtigste im Leben ist: Liebe, Sehnsucht, Lebensfreude.

Fast könnte man glauben, auf Kuba gäbe es keine Probleme, egal, was einem da Gegenteiliges erzählt wird, Kuba kann gar nicht so schlecht sein, wenn solche Musik gemacht wird. Eine Lobeshymne der karibischen Insel und ihrer Hauptstadt jagt die andere: »Havanna, wer keinen Spaß hat, wer nicht tanzt in Havanna, Caballero/ wenn die Musik so hervorragend ist, sich ausgelassen zu vergnügen in Havanna …« Lobpreisungen der kubanischen Menschen, der Frauen genau wie der Männer, von Sex und Liebe – glücklichen wie unglücklichen: »Du bist die Frau, die Königin meines Herzens/ dein verführerischer Gang, deine liebevollen Bewegungen/ deine Haut, die in der Sonne golden glänzt«, heißt es an einer Stelle, oder: »Ich hätte dich nicht lieben sollen, aber ich habs getan/ ich hätte dich nicht vergessen sollen, aber ich habs getan«; und natürlich tanzen, immer wieder tanzen: »Morena, du Hübsche, lass uns Spaß haben/ gehen wir Guaracha tanzen/ mit dir möchte ich Spass haben«.

Selbst die beiden neuen Kompositionen von Ibrahim Ferrer, »Boquinene« und »Hay Que Entrarle A Palos A Ese« sind humorvoll, reichlich gespickt mit erotischen Anspielungen und Witzchen, enthalten keine Spur von Gesellschaftskritik, sind nur ein Muss zum Tanzen. Und »La Musica Cubana«, eine gemeinsame Komposition von Chucho Valdés, Kubas Ausnahmepianist, dem Bandleader Demetrio Muniz und Ferrer, ist eine Hommage an die kubanische Musik generell: »Viele Große haben unsere kubanische Musik gesungen/ wir werden ihre Namen nicht vergessen, uns immer an sie erinnern.« Insbesondere an Abelardo Barroso, den »Caruso der Karibik«, den Sänger des Sexteto Nacional und des Sexteto Habanero in den Zwanzigern. Barroso war es auch, der eine Einladung für seinen Lieblingskomponisten Faustino Oramas alias El Guajabero ins Egremstudio in Havanna besorgte, wo das Album »Buenos Hermanos« aufgenommen wurde. Deshalb gibt es auch mit »Oye el Consejo« ein Stück des 90jährigen Musikveteranen auf dem Album, das als letzter Song quasi programmatisch »Buenos Hermanos« mit dem Satz beschließt: »Es gibt keine schönere Musik auf der Welt als die kubanische.« Und man nimmt diese Aussage den alten Herren durchaus ab.

Sie treffen mitten ins Herz und lassen einen unwillkürlich nach einer Tanzpartnerin suchen, um die Welt zu vergessen und das Leben zu genießen: Si, vamos a bailar, linda! Was für ein schönes Statement, wie es nicht einfacher, ungezwungener und positiver formuliert werden könnte. Von diesen alten Herren, die gleichzeitig, fast wie Dandys, so viel Wert auf Eleganz und Stil legen, in ihrer Musik und in dem, was sie über das Leben erzählen. Statt selbstgerechtem Puritanismus bieten sie eine Hymne an das Leben.

Ibrahim Ferrer: Buenos Hermanos (World Circuit/Indigo)