Luftschlösser für Millionen

Die Frankfurter Schirn zeigt die bedeutendsten Architekturzeichnungen der Moderne. von marc peschke

Architekten sind Immer- und Überallzeichner. Ideen, Projekte und bisweilen kühne Architektur-Utopien schwirren in ihren Köpfen herum – bis sie irgendwann zu einem Stück Papier greifen und loslegen. Der Architekt Alvar Aalto soll einmal gesagt haben: »Gott schuf das Papier, um Architektur darauf zu zeichnen.«

Etwa 200 Architekturzeichnungen des 20. Jahrhunderts aus der Sammlung des Museum of Modern Art zeigt die Frankfurter Schirn jetzt unter dem Ausstellungstitel »Visionen und Utopien«. Gerade die Architekturzeichnung, die schnelle Skizze und der noch nicht realisierte Entwurf, kann sich als »Vision« oder »Utopie« zeigen – denn gebaut wurden nur die wenigsten der Projekte in der von Ben van Berkel und Caroline Bos mit einer abgehängten Decke und einer zart geschwungenen Zwischenwand sehr ambitioniert gestalteten Ausstellung.

Die Künstlerliste liest sich wie ein »Who’s who« der modernen Architektur, von Otto Wagner bis zur Dekonstruktivistin Zaha M. Hadid. Die Kuratoren Matilda McQuaid und Bevin Cline haben eine exklusive Auswahl aus der bedeutenden, seit 1932 bestehenden New Yorker Sammlung getroffen und nach Frankfurt gebracht – nicht chronologisch geordnet, sondern nach Bauaufgaben wie »öffentliche und kulturelle Zentren«, »Zentren der Macht und des Handels«, »Wohnhäuser« oder »Gedenkstätten und Denkmäler« gruppiert. Die Sammlung des Department of Architecture and Design, die Architekturabteilung des Moma, war anfangs eine reine Studiensammlung, doch wurde sie nach und nach erweitert. Heute umfasst sie annähernd 1 000 Zeichnungen, 179 Modelle und das Mies van der Rohe-Archiv mit über 18 000 Zeichnungen.

Den Auftakt der Schau bildet Otto Wagners fast zwei Meter lange Tuschezeichnung eines Entwurfs für die Wiener Ferdinandsbrücke. Die Modernität der 1896 entstandenen Zeichnung ist frappierend und Wagners Strich von sachlicher Anmut. Um 1915 entstanden Lithografien von Frank Lloyd Wright, die nicht nur den großen Architekten, sondern vor allem den Zeichner und Japanliebhaber entdecken lassen. Wrights ganzseitige Zeitungsannoncen warben für seine kostengünstigen Häuser aus seriell vorgefertigten Elementen und waren nach dem Vorbild japanischer Holzschnitte gestaltet.

Zu den bekanntesten Blättern der Ausstellung gehört Mies van der Rohes Kohle- und Bleistiftzeichnung für ein Hochhaus an der Berliner Friedrichstraße aus dem Jahr 1921. Der spitze, kristallin anmutende Glasturm mit den aufgelösten Mauerflächen ist der vielleicht vollkommenste Ausdruck des expressiven Bauens der zwanziger Jahre. Vor allem diese Arbeit beweist die Wichtigkeit der Architekturskizze als historisches Dokument: Obwohl das Hochhaus nie gebaut wurde, gilt die Entwurfszeichnung als hervorragender Beleg für den Geist der expressionistischen Architektur in Deutschland.

Über Buckminster Fullers nur drei Tonnen schweres »Dymaxion-Haus« führt die Ausstellung zu den städtebaulichen Entwürfen von Le Corbusier, der früh begriffen hatte, dass es die wichtigste Aufgabe der Architektur sein würde, neuen, günstigen Wohnraum zu schaffen. Mit Konzepten wie »eine zeitgenössische Stadt von drei Millionen Einwohnern« aus dem Jahr 1922 wurde Le Corbusier zum einflussreichen und umstrittenen Stadtplaner, der nach dem Zweiten Weltkrieg mit der »Unité d’Habitation« in Marseille eine Utopie des kollektiven Wohnens Wirklichkeit werden ließ, die heute als gleichermaßen visionär und brutal beschrieben wird. Ein humorvoller Kommentar zu den kleinen Wohnparzellen Corbusiers ist eine Collage Albrecht Heubners aus dem Jahr 1928. In seiner winzigen »Mindestwohnung«, einer Negativutopie des städtischen Bauens, kann ein erwachsener Mensch nur stehen, wenn er sich bückt und die Arme fest um seine Waden legt.

Mitte der sechziger Jahre war es etwa die englische Architektengruppe »Archigram«, die neue, aufregende »Visionen und Utopien« zu formulieren wusste. Kaum etwas ist gebaut von Archigram, das Werk existiert vor allem in den neun Ausgaben der Gruppenzeitschrift. Archigram formulierte eine extreme Gegenposition zum Funktionalismus Le Corbusiers: Wandelnde Städte und tragbare Häuser finden hier genauso Platz wie die farbenfrohen Zeichen der Pop-Art und die Symbole der Gegenkultur. Neben einer großen Farbtuschezeichnung von Peter Cook springt vor allem eine perspektivische Ansicht von Ron Herron, ebenfalls ein Mitglied von Archigram, ins Auge. Ron Herron beschrieb sich selbst als einen Architekten, der versucht, Bauen, Technik und Kunst zu verflechten, um etwas »Besonderes« für den Benutzer zu produzieren. Seine Collage aus dem Jahr 1966 »Walking City on the Ocean« zeigt eine Reihe von riesigen, panzerähnlichen Fahrzeugen, die alle Elemente urbanen Lebens in sich tragen und sich zudem auf dem Wasser bewegen können.

Viele Collagen sind in der Ausstellung zu sehen, wie etwa die Serie »Exodus oder die freiwilligen Gefangenen der Architektur« von Rem Koolhaas und Elia Zenghelis aus dem Jahr 1972, eher Bildergeschichte oder Storyboard als Architekturzeichnung, die Koolhaas’ frühere Tätigkeit als Drehbuchautor spiegelt. Die Eröffnungsszene mit dem Titel »Erschöpfte Flüchtlinge werden zum Empfang geführt« offenbart die tiefe Skepsis und Kritik, mit der Architekten der »Unwirtlichkeit der Städte« begegneten: Dunkle Mauern, Panzersperren und tiefe Gräben umgeben eine Skyline, der sich die Flüchtlinge nähern – in einem nach Koolhaas »beständigen Zustand ornamentaler Ekstase und dekorativen Deliriums, einer Überdosis an Symbolen«.

Postmodernismus und Dekonstruktivismus, die großen Architekturstile der achtziger und neunziger Jahre sind etwa mit einer Perspektive Ricardo Bofills und einer Faserstiftzeichnung von Robert Venturi und John Rauch in der Ausstellung vertreten. Doch Venturis Dictum des »Less is bore«, die Abwendung von der Nüchternheit, gilt bereits heute als überwunden. Und auch die zersplitterten Baukörper des Dekonstruktivismus von Daniel Libeskind oder Zaha Hadid gelten heute aus Auslaufmodelle: Die neuesten Arbeiten der israelischen Architektin bestechen wieder durch traditionsbewusste Eleganz.

Hadid hat das utopische Wesen der Architekturzeichnung im Kern erkannt, wenn sie im Katalog zur Ausstellung schreibt: »Die Zeichnung ist eine Linse, die sonst nicht wahrnehmbare Aspekte offenlegt; mit ihrer Hilfe lässt sich verstehen, wie sich die Dinge wandeln, entwickeln und wie sie nützen; sie dient nicht dazu, eine Form in einer bestimmten Art und Weise herauszuarbeiten, sondern zur Darlegung der Möglichkeiten dessen, was sie werden kann.« Die Ausstellung zeigt unter anderem eine große perspektivische Ansicht des Projekts »The Peak« in Hong Kong aus dem Jahr 1991.

Die jüngsten Arbeiten der Ausstellung stammen von der amerikanischen Architektin Lauretta Vinciarelli. In ihrem im Jahr 2000 entstandenen »Orange Sound«-Projekt entfernt sie sich vom Feld der Architekturzeichnung weiter als jeder andere in der Schau. Die geheimnisvoll leuchtenden Aquarellfarben ihrer Blätter lassen an die Farbfeldmalerei Mark Rothkos denken, vielleicht auch an die Skulpturen und Zeichnungen von Donald Judd, wie im Katalog zu lesen ist. Die Grenzen zwischen Kunst und Architektur hat Vinciarelli längst hinter sich gelassen. Das Einzige was bleibt, ist ein diffuser Lichtraum.

Max Hollein, der Direktor der Schirn Kunsthalle, ist sich sicher: »Die Handzeichnungen markieren Meilensteine innerhalb der Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts.« Doch diese Erkenntnis ist freilich nicht neu: Architekturzeichnungen gelten seit jeher als eine besonders hochrangige Gattung der Kunst. Vor allem in der Renaissance – die Vitruvs im 1. Jahrhundert vor Christus entstandene Schrift »De architectura« wiederentdeckt hatte – war der Architekt weniger ein Techniker, als ein bewunderter Künstler. Die Frankfurter Ausstellung vereinigt die schönsten Architekturskizzen des 20. Jahrhunderts und ist zudem eine faszinierende Hommage an den Architektenberuf.

Schirn Kunsthalle Frankfurt (www.schirn.de), noch bis zum 3. August, Dienstag, Freitag bis Sonntag 10 bis 19 Uhr, Mittwoch und Donnerstag 10 bis 22 Uhr. Zur Ausstellung ist ein Katalog im Prestel-Verlag erschienen.