Wo? In Haifa? Wie viele Tote?

Chronik eines Selbstmordattentats in Israel. von michael borgstede (Text) und ohayon avi (Fotos)

Mittwoch, Haifa, 14.15 Uhr

Ilana überlegte noch, den Bus zu überholen, als dieser die Haltestelle verließ und sich wieder in den zäh fließenden Verkehr einfädeln wollte. Dann hörte sie einen lauten Knall, sah, wie sich das hintere Ende des Busses wie ein bockender Esel in die Luft hob, das Dach barst und Polster, Scherben sowie blutverschmierte menschliche Gliedmaßen auf der Straße landeten. Fünfzig Kilogramm Sprengstoff hatte der Attentäter im hinteren Teil des gut besetzten Busses zur Detonation gebracht. Für einige Sekunden, berichtet Ilana, »herrschte Totenstille. Der stillste Augenblick meines Lebens. Es war, als sei etwas geschehen, das nicht auf diese Welt gehört, und wir mussten in eine andere Realität vordringen, um es wirklich begreifen zu können.« Als Sekunden später die allgemeine Panik losbrach, Menschen schrien, Sirenen aufheulten und die ersten Eimer Wasser auf den brennenden Bus gegossen wurden, zögerte die ehemalige Sanitäterin nicht lange und begann, Verletzte aus den Trümmern zu bergen. Der Geruch von verbranntem Fleisch wird sie noch lange verfolgen.

Tel Aviv, 14.30 Uhr

Nach einem ungewöhnlich verregneten Winter haben wir uns zum nachbarlichen Kaffee auf unserem sonnigen Balkon über den Dächern von Tel Aviv versammelt, als Tals Handy klingelt.

»Wo? In Haifa? Wie viele Tote?«

Niemand benötigt eine Erklärung. Alle wissen sofort, wovon die Rede ist. Ich stelle im Wohnzimmer den Fernseher an. Bus 37 ist in der Gegend um den Karmel-Berg explodiert. Besser: explodiert worden. Genaueres ist noch nicht bekannt, nur dass es viele Tote gibt, wahrscheinlich Schüler und Kinder darunter. Wer Bekannte oder Freunde in Haifa hat, greift beunruhigt zu seinem Mobiltelefon. Im Fernsehen werden die ersten Augenzeugen befragt – da fällt uns Ilana ein. Sie musste heute nach Haifa fahren, und ihre Eltern wohnen ganz in der Nähe der Unglücksstelle. Mehrmals versuchen wir vergeblich, sie anzurufen, und rechnen schon mit dem Schlimmsten, als sie schließlich antwortet. Es gehe ihr gut, sagt sie und klingt gar nicht danach. Die Bombe habe sie nur in ihrem Auto hinter dem Bus erwischt. Und sie müsse jetzt Schluss machen, jemand wolle sie in ein Krankenhaus bringen. Dafna beginnt zu weinen. Sie hat genug von allem, sie will hier weg. Vor einem Jahr ist ihr Ex-Freund während seines alljährlichen Militärdienstes an einem ungeschützten Siedlungsaußenposten im Westjordanland von einem palästinensischen Scharfschützen erschossen worden. Er gab in seiner Freizeit palästinensischen Kindern Musikunterricht und hat in den letzten Jahren keine Friedensdemonstration verpasst.

Haifa, später Nachmittag

Die 16jährige Schani wird mir am nächsten Morgen weinend erzählen, wie sie auf ihre Freundin Tal auch noch gewartet habe, als schon klar war, dass keine Hoffnung mehr bestand. Wie sie mit ihren Freunden den Unglücksort abgesucht habe und wie sie schließlich realisierten, dass auch Liz verschwunden war und auch nicht ans Telefon ging. Und es wohl nie wieder tun würde. Schani weigerte sich über Stunden, den Unglücksort zu verlassen und nach Hause zu gehen. Sie wartete noch immer, als die üblichen Demonstranten auftauchten, die mit ihren rassistischen Parolen die Tragödie für ihre Zwecke ausschlachten wollen. Sie kommen aus dem Landesinneren, besonders aus Jerusalem, haben ihre Plakate und Poster immer im Auto liegen und sind jederzeit einsatzbereit. »Keine Araber – kein Terror« oder »Tod den Arabern« skandieren sie. Beliebt sind sie nicht, aber nach einem derart schrecklichen Anschlag spekulieren sie darauf, dass man ihren Extremismus toleriert. Nicht zu Unrecht: Lähmende Hilflosigkeit legt sich über das Land, und Trauer und Schmerz vermischen sich mit Zorn und Wut. Vor diesem Hintergrund wirken die rechten Parolen kurzfristig weniger abwegig als sonst.

Haifa, Abend

Bis in die Dunkelheit hinein gehen die Zaka-Männer ihrer schauerlichen Arbeit nach. Nach jüdischem Gesetz muss jeder Bestandteil eines menschlichen Körpers angemessen bestattet werden. Die Organisation Zaka hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Toten diesen letzten Dienst zu erweisen. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter sind orthodoxe Juden, die ihr Leben dem Studium der Thora widmen, und nur wenn der elektrische Pieper einen Terroranschlag meldet, die Gebetsriemen gegen Plastikhandschuhe eintauschen, um sorgfältig jeden Tropfen Blut und jedes verkohlte Stück Haut zu bergen. Sie arbeiten geduldig und ausdauernd. Manchmal kniet einer kurz pausierend vor den mit Plastik abgedeckten Leichenteilen, und man denkt, jetzt kann er nicht mehr, es ist genug, jetzt wird er sich abwenden und nach Hause gehen. Dann wischt er sich mit dem Arm übers Gesicht, trocknet vielleicht eine Träne oder verjagt einen Gedanken und kehrt in den ausgebrannten Bus zurück. Von Scheinwerfern beleuchtet, wirkt der schon jetzt wie sein eigenes Monument.

Ich solle zu ihm nach Hause kommen, hat Arkadi Asulai am Telefon vorgeschlagen. Er arbeitet seit fünf Jahren als Freiwilliger für Zaka und vermeidet Cafés nicht aus Angst vor Anschlägen, sondern wegen der Erinnerungen. Überall in Jerusalem drängen sich ihm beim Spazierengehen die grauenvollen Bilder nach einem Anschlag auf, denn in Jerusalem ist fast an jeder Straßenecke schon einmal etwas explodiert. Und Arkadi ist immer einer der ersten am Tatort. Seine Thoraschule ist zentral gelegen, und sobald sein elektrischer Pieper Alarm schlägt, lässt er alles stehen und liegen, stülpt sich seine neongelbe Weste über und macht sich auf den Weg. Dann sammelt er zerfetzte Körper auf. Warum?

»Es ist eine Mizva, meine religiöse Pflicht. Die Toten müssen in Würde beerdigt werden, egal wie sie zugerichtet wurden.«

»Wie oft kann man so etwas mitmachen, ohne daran kaputtzugehen?«

Arkadi muss über seine Antwort nicht nachdenken: »Man kann so etwas gar nicht mitmachen. Einmal ist zu viel. Aber es gibt Dinge, die sind wichtiger als mein Wohlbefinden. Dazu gehört die Würde der Toten.«

Im Hintergrund toben seine Kinder. Auf den ersten Blick zähle ich sechs. Auch der Kleinste hat Stirnlocken und trägt eine Kippah. Arkadi lächelt ihnen liebevoll zu, wendet sich dann mit jäher Entschiedenheit wieder an mich: »Wenn ich tote Babys oder Kinder entdecke, dann weine ich. Das darf man. Ich bin auch nur ein Mensch.«

Plötzlich fällt ihm etwas sehr Wichtiges ein, was ich unbedingt erwähnen müsse: Dass er nämlich auch aus Liebe zu Israel für Zaka arbeite. »Die Säkularen glauben immer, wir Haredim würden den Staat nur ausnutzen wollen und keine Gegenleistung erbringen. Ich arbeite zwar nicht täglich im Büro und war auch nicht bei der Armee. Doch ich bete ohne Unterlass für unser Land und bemühe mich um alle Toten gleich viel. Unentgeltlich. Und Respekt, den zumindest könnten die Säkularen uns entgegenbringen.«

Haifa, Donnerstagmorgen

Die Reali-Schule in Haifa hat drei ihrer Schüler verloren. Der Weg zum Haupteingang ist mit Kerzen gesäumt. Auch Bilder der Ermordeten haben ihre Mitschüler aufgestellt, Plakate bemalt und mit bunter Kreide auf den Boden geschrieben: »Wir werden euch nicht vergessen.« In den Klassenräumen sprechen Psychologen mit traumatisierten Kindern. Sie begannen ihre Arbeit nur Stunden nach dem Anschlag. Schulen sind in Israel für jede Eventualität gerüstet. Ob Chemieangriff oder Terroranschlag; für alle Fälle wartet ein Plan mit Verhaltensmaßregeln in der Schublade auf seine Verwirklichung. Anhand vorbereiteter Listen rief der Direktor sofort nach Bekanntwerden des Attentats alle als Psychologen, Ärzte oder Sozialarbeiter tätigen Eltern zum Notdienst in die Schule. Viele waren schon unterwegs.

Die Direktion fordert die Lehrkräfte dazu auf, ihren Schülern auch physischen Kontakt zu gewähren. »Eine Umarmung ist jetzt kein Tabu. Wer trauert, muss getröstet werden.« Auf dem Schulhof trösten sie sich untereinander. In kleinen Grüppchen stehen die Schüler beieinander, weinen, umarmen einander, tauschen die aktuellen Angaben zu Opfern und Verletzten aus. Und sie diskutieren:

»In Haifa haben die Terroristen es ja leicht. Bei all den Arabern hier, fällt einer mehr im Bus gar nicht auf.«

»Es ist sicher auch kein Zufall, dass es so nah an einem arabischen Dorf geschehen ist.«

»Hey, das ist nicht fair. Es soll auch ein arabisches Mädchen umgekommen sein, und eine Drusin. Die können nun wirklich nicht alle was dafür.«

»Trotzdem. Die Araber von hier haben den Terroristen sicher versteckt. Das machen die doch immer.«

»Gar nicht wahr. Papa sagt, so was passiert sehr selten. Aber dann steht’s immer ganz groß in der Zeitung.«

»Ist mir total egal, ob die jetzt geholfen haben oder nicht. Wenn’s sie nicht gäbe, gäb’s jedenfalls auch keine Bomben.«

Der Direktor muss wissen, was seine Schützlinge beschäftigt. Er hält ein kurze Ansprache, in der er vor voreiligen Schlüssen warnt und zu Toleranz und Respekt »dem anderen« gegenüber aufruft. »Haifa ist eine gemischte Stadt und bleibt das auch. Niemand wird hier aufgrund seiner Religionszugehörigkeit diskriminiert«, beendet er seine Rede. Das ist natürlich nicht ganz wahr und doch schön zu hören. Die meisten arabischen Schüler haben sich heute lieber nicht in der Schule sehen lassen.

Tel Aviv

Weit weg von Haifa, im Süden Tel Avivs, sind im Pathologischen Institut Abu Kabir neun Pathologen damit beschäftigt, die Opfer zu identifizieren. Dr. Jehuda Hisser ist seit über zwölf Jahren Chefpathologe: »Sie können sich sicher vorstellen, unter welchen Umständen wir arbeiten. Familien kommen jetzt hierher, um ihre Angehörigen zu identifizieren. Wo das nicht mehr möglich ist, müssen wir auf DNA-Analysen zurückgreifen, und in welchem Zustand die Leichen sich befinden, möchte ich Ihnen lieber nicht erklären. Vielen Kollegen macht das arg zu schaffen. Ich habe in den letzten zwei Jahren sechs Mitarbeiter ersetzen müssen, die es einfach nicht mehr aushielten. Einige Kollegen bringen es nach der Arbeit nachts nicht einmal mehr fertig, ihre eigenen Kinder anzuschauen.« Merkwürdig, wie Dr. Hisser immer von den Schwierigkeiten der »Kollegen« spricht. Selbst möchte er mit alldem wohl lieber nichts zu tun haben.

Freitagmorgen

Die Wochenendausgaben der drei großen Tageszeitungen erscheinen. Das Massenblatt Jediot Achronot widmet der Bombe in Haifa die ersten sechs Seiten. Den Titel dominiert die Headline »Massaker im Autobus«. Dr. Hisser und sein Team in Abu Kabir haben gute Arbeit geleistet. Jedes Opfer hat einen Namen, ein Foto, eine Geschichte und natürlich seinen eigenen dummen Zufall, der das Leben gekostet hat. Daniel Harusch zum Beispiel hätte eigentlich auf Klassenfahrt in Auschwitz sein sollen. Aber der 16jährige wusste um die finanziellen Schwierigkeiten seiner Eltern und wollte sie mit der Frage nach dem Geld für die Fahrt nicht in Verlegenheit bringen. Juval Mendelwitsch (13) war länger in der Schule geblieben, um ein Treffen zwischen jüdischen und arabischen Jugendlichen für das Friedenszentrum »Givat Haviva« zu organisieren, und die drusische Schülerin Kamar Abu Hamed (12) lebt nicht mehr, weil ihr Computerunterricht eben etwas länger dauerte als gewöhnlich. Meital Katar (20) wurde von der Bombe beim Telefonieren mit ihrer Schwester überrascht, Tom Herschko (15) hatte seinen Vater Motti (41) zu einem Vorstellungsgespräch begleitet und wollte nun mit ihm den neuen Job feiern. Sie saßen im Bus, weil Motti sein Auto kurz zuvor verkaufen musste.

Tagelang noch werden diese Lebens- und Sterbensgeschichten uns begleiten, werden im Fernsehen Lehrer von ihren toten Schülern und Mütter von ihren toten Kindern berichten und wird jede Beerdigung in den Nachrichten einzeln erwähnt werden.

Die internationalen Zeitungen und Fernsehsender beschäftigt das Attentat kaum mehr. Das sind Nachrichten von gestern. Nachts sind in einem Flüchtlingslager im Gasastreifen 11 Palästinenser von israelischen Soldaten getötet worden.

Freitagmittag

Von den 53 Verletzten befinden sich noch 16 im Krankenhaus. Der Zustand zweier wird als »kritisch« eingestuft und weitere vier gelten als »schwer verletzt«. Was das wirklich bedeutet, ist nur schwer vorstellbar. Um die Zahl der Verletzten zu maximieren, mischen die Bombenbauer ihren Sprengsätzen Nägel, Schrauben und Glasscherben bei, die manchmal noch mit Rattengift übergossen werden. Die Folgen für die Opfer sind fatal.

Corinne Ben Aroya sitzt auffallend gerade. Anlehnen schmerzt. Von Zeit zu Zeit befühlt sie vorsichtig ihren Hinterkopf. Dort liegt seit dem 28. März 2002 ein vergifteter Nagel begraben. Er drang rechts von ihrer Nase ein und ließe sich nur durch eine überaus riskante Operation entfernen. »Noch halte ich die Kopfschmerzen für weniger schlimm als den Tod«, sagt sie. »Das ist sicherer, so lange meine Kinder mich brauchen.«

Die Ben Aroyas hatten sich am Abend des Passahfestes 2002 im Park Hotel von Netanja versammelt, um im Familienkreis den wichtigsten jüdischen Festtag des Jahres zu begehen. Die Feier hatte gerade begonnen, als ein Selbstmordattentäter in unmittelbarer Nähe ihres Tisches explodierte und 22 Gäste tötete, darunter Corinnes Ehemann, Simon. Corinnes Körper wurde von unzähligen Nägeln, Schrauben und Splittern durchbohrt. Sie ist mit Narben übersät und kann kaum selbstständig gehen. Ihre 20jährige Tochter Shelly hat mehrere Monate im Krankenhaus zubringen müssen, sitzt im Rollstuhl und kann wegen eines Nagels im Sprachzentrum des Gehirns keine zusammenhängenden Sätze bilden. Auch Corinnes Sohn Elad (10) und ihre Tochter Hilla (14) trugen Verletzungen davon. Die Zwillingsbabys im Kinderwagen blieben wunderbarerweise unverletzt.

»Unser Leben besteht eigentlich nur noch aus Terminen beim Arzt, Psychologen, Physiotherapeuten oder einem Besuch am Grab meines Mannes«, sagt sie leise. »Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, ich hätte nicht überlebt. In was für einer Umgebung wachsen denn die Zwillinge auf? Die Kinder brauchen eine Mutter, aber ich warte nur, bis die staatliche Hilfskraft kommt, um mich endlich in mein Zimmer einschließen zu können und vor Schmerzen zu heulen. Elad hat noch immer Hemmungen, mich anzufassen. Es ekelt ihn vor meinen Narben. Und Shelly bräuchte meine ganze Aufmerksamkeit, aber ich bin ja nur mit mir selbst beschäftigt.« Man muss Corinne keine Fragen stellen. Ihre Verzweiflung sprudelt aus ihr heraus. Sie erzählt von den unzähligen Operationen, von der Angst vor der ersten Widerbegegnung mit den Kindern nach dem Anschlag, dem Leben ohne Simon und den Schmerzen.

Ob sie denn je wieder das Passahfest feiern werden? Sie lacht bitter. »Nein. Das Jubiläum des Auszugs aus Ägypten bedeutet für uns den Einzug in die Hölle. Dafür dankt man Gott nicht.«

Corinne muss sich umziehen. Ihre Schwester wird sie abholen und in ein Konzert mitnehmen. Eigentlich vermeidet Corinne die Öffentlichkeit. »Komisch angeschaut werde ich hier nicht. Alle auf der Straße wissen natürlich, woher meine Narben stammen und jeder ist voll Mitleid. Aber ich habe ein schlechtes Gewissen, ich will nicht andere Menschen dauernd an unsere Situation erinnern. Die Verletzten sind wie ein Stachel im Fleisch der israelischen Gesellschaft, wir verschwinden nicht wie die Toten. Man begegnet uns auf der Straße und im Supermarkt. Wir sind eine offene Wunde und wir heilen nicht.«