Papa auf dem Frustspaziergang

Wenn alles klappt, können die Berliner Eisbären in dieser Saison Meister werden. Zu verdanken hätten sie es Pierre Pagé, ihrem Trainer. von daniel goldstein

Wo ist eigentlich Papa?« fragt Sven Felski, ein Stürmer des Eishockeyklubs EHC Eisbären, seinen Teamkollegen Alexander Barta. Der hat keine Ahung und zuckt nur mit den Schultern. Der Verteidiger Nico Pyka mischt sich ein und meint: »Im Bus ist er noch nicht.« Der Papa Genannte ist einfach unterwegs. Er fehlte schon beim Abendessen des Teams nach der lustlosen 1:3-Niederlage in der Deutschen Eishockey-Liga (DEL) gegen die Iserlohn Roosters.

Wie immer nach einer Niederlage, und sei sie noch so knapp oder unglücklich zustande gekommen, ist der Cheftrainer der Berliner Eisbären kurzzeitig verschollen. Pünktlich zur Abfahrt des Busses zum Hagener Hauptbahnhof sitzt Pierre Pagé dann aber wieder auf seinem gewohnten Platz. Erste Reihe. Rechts. Und zunächst ziemlich wortkarg.

»In Iserlohn gibt es viele griechische Restaurants«, wird er erst viel später und recht zusammenhanglos im Gespräch mit Manager Peter John Lee bemerken. Sein Frustbewältigungs- und Analyse-Spaziergang führte den Trainer anscheinend entlang einer ganzen Reihe von Lokalen mit Namen wie »Akropolis« oder »Athena«. Während der halbstündigen Busfahrt gibt der Frankokanadier Pagé keinen Ton von sich. Erst während der Zugfahrt nach Berlin nimmt er zusammen mit seinem kanadischen Landsmann Lee das Spiel auseinander und redet sich, wie Lee hinterher erzählt, »in Rage«.

Dabei gab es wenig Grund dazu. Schließlich konnte diese Niederlage nichts daran ändern, dass die Eisbären mit einigen Punkten Vorsprung die Vorrundenmeisterschaft der DEL gewinnen konnten. Doch Pagé ist vom Erfolg besessen. Über 52 Spiele läuft die reguläre Saison der DEL, und während sich die Spieler auf dem Eis nicht für jede Partie hundertprozentig motivieren konnten, wollte der Coach am liebsten verlustpunktfrei in die heute beginnenden Play-Offs gehen.

Im Januar 2002 kam der 54jährige Pagé nach Berlin. Er löste bei den Eisbären den ehemaligen Nationalspieler Uli Egen ab, der in seinem ersten richtigen Trainerjob vor allem an mangelnder Vorbereitung und Trainingsplanung gescheitert war. So etwas würde Pierre Pagé garantiert nicht passieren. Seit seinem Arbeitsantritt vor knapp 14 Monaten hat Pagé Berlin nur ein paar Mal kurz verlassen. Vorwiegend handelte es sich dabei um Reisen zu Trainertagungen oder internationalen Turnieren.

Einmal war er krank, richtig krank. Erysipel, lautete die Diagnose. Das ist eine Bakterienkrankheit, die, wenn sie nicht innerhalb von 48 Stunden richtig behandelt wird, tödlich verläuft. Und selbst während der Krankheit wollte Pagé weiterarbeiten, mit 39 Grad Fieber und geschwollenen Ohren. In seinem Krankenbett schrieb er die taktischen Konzepte für seine Eisbären. Schließlich hatte sein Team in dieser Saison 2001/ 2002 ja endlich mal wieder die Play-Offs erreicht. Sogar eine Mannschaftssitzung fand an seinem Krankenbett statt.

»Jeden Tag ein bisschen besser werden«, lautet das Motto des in Quebec geborenen Trainers. Und sein Team hat er so tatsächlich besser gemacht. In der laufenden Saison dominierte es die Liga nach Belieben. Nur einmal, am ersten Spieltag, standen die Berliner in der 14 Mannschaften umfassenden Liga außerhalb der Top vier. Für Aufsehen sorgte außerdem die Spielweise der Eisbären. Während die meisten anderen Teams, allen voran die Kölner Haie, die von Bundestrainer Hans Zach betreut werden, abwartendes Defensiv-Eishockey zeigen, begeistern die Eisbären ihre Fans mit einer offensiv aggressiven Grundeinstellung.

Als Pagé zum ersten Mal von seinem Torpedosystem sprach, waren die Reaktionen der Tagespresse einhellig: »Rohrkrepierer«, las man. Ein halbes Jahr später, nachdem der Manager Lee vor allem schnelle und technisch starke Spieler geholt hatte, priesen beinahe alle das Torpedosystem als »modernes Eishockey«.

Pierre Pagé veränderte aber nicht nur die Spielweise auf dem Eis. Er kümmerte sich auch um vermeintliche Kleinigkeiten. Mit einem Foto der Kabine der Montreal Canadiens gestaltete er die Hohenschönhausener Räume umgehend neu. Schließlich ist er bei denen, einer der berühmtesten Sportorganisationen überhaupt, groß geworden. Und Tradition spielt für ihn eine große Rolle. Da ist er bei den Eisbären nicht unbedingt beim falschen Verein gelandet. Der Klub hat auch eine lange Geschichte. Schließlich gehörte der Verein früher als Sektion Eishockey zum SC Dynamo Berlin und gewann in der mit zwei Teams kleinsten Liga der Welt insgesamt 15 DDR-Meistertitel. Die aus dieser Zeit stammenden Ehrenurkunden, Fotos und Medaillen an mehreren Wänden der Kabine sollten den Spielern nach Pagés Willen bewusst machen, dass ihr schon lange nicht mehr Dynamo heißender Club immer noch etwas Besonderes ist.

Aber Dynamo war auch die Sportvereinigung der Staatssicherheit. Also gab es Kritik, mit der der Kanadier nicht gerechnet hatte. »Wenn ich gewusst hätte, dass es so ankommt, hätte ich es nicht angeregt«, meinte Pagé zu entsprechenden Zeitungsartikeln. »Mir ging es nicht um Politik, sondern einzig und allein um den Sport und seine Geschichte.« Sehr gut harmoniert Pagé mit seinem Assistenten Hartmut Nickel. Der ist ein echtes Überbleibsel, er trainierte früher sowohl die Dynamo- als auch die DDR-Nationalmannschaft.

Für die Fans im Hohenschönhausener Sportforum, das wegen seines schlichten DDR-Schicks »Wellblechpalast« genannt wird, feuern immer noch am liebsten ihre »Dynamos« an. Das alte Wappen des Vereins wird benutzt, und von den Rängen wird »Ost-, Ost-, Ostberlin« skandiert.

Pagé hat seinen eigenen Stil, und der findet langsam Akzeptanz in der DEL. Auf den Pressekonferenzen nach den Spielen gerät er schon mal ins Philosophieren, vergleicht ein langweiliges Spiel etwa mit »einem schlechten Bild von Picasso« oder bringt nach einer Niederlage kurzerhand den Mannschaftskapitän mit und lässt ihn erklären, warum es schief lief.

Das macht ihn bei den Fans beliebt, nicht nur in Berlin. Bei der alljährlichen Wahl zum DEL-All-Star-Team gewann Pagé gegen die anderen 13 Coaches mit großem Abstand. Dabei half ihm sicherlich auch seine Jugendarbeit.

Pagé fördert junge Talente und erwarb sich viel Respekt, weil er den jungen Eisbären, aber auch Nachwuchsakteuren aus Miesbach, Lübeck oder Crimmitschau eine Chance gab. Nico Pyka ist einer von ihnen. »Ich finde es sensationell, wie er sich für die jungen Spieler einsetzt. Das habe ich bei noch keinem Trainer erlebt«, meinte der 25jährige Verteidiger, dessen 18jähriger Bruder Danny auch eine Chance erhielt. So gelingt es Pagé, in den international besetzten Kader wieder mehr heimische Talente einzubauen. Jahrelang war Sven Felski der einzige Berliner im Team, ja, sogar der einzige Ossi.

Der Begeisterung der nicht unbedingt für Multi-Kulti-Projekte schwärmenden Fans tat’s keinen Abbruch, aber dass Pagé sich nun auch um in Deutschland lebende Talente kümmert, wird vom Klub und von den Fans gerne angenommen.

Sven Felski, der seit 1992 eine Vielzahl von Trainern in Hohenschönhausen erlebte, hält den Ex-NHL-Coach (Anaheim, Calgary, Quebec) für einen »sehr guten Trainer, der sich intensiv mit dem Sport befasst und sich auch echt Gedanken macht. Fast zu viele.«

Das ist Pierre Pagé bewusst. »Es ist wie in einer Familie, die Eltern sorgen sich und die Kinder machen vollkommen unbesorgt weiter«, sah er kürzlich ein. Die Kombination könnte besser nicht sein. Schließlich ist er der Papa.