Bildung ist keine Ware

Die Schülerinnen und Schüler sollen für den kapitalistischen Verwertungsprozess getrimmt werden. von sebastian schlüsselburg

Seit der Veröffentlichung der von der OECD durchgeführten Schulleistungsvergleichsstudie Pisa bekam die bildungspolitische Debatte zunächst scheinbar neuen Schwung. Das miserable Abschneiden von Deutschlands getesteter Schülerschaft machte es möglich.

Allerdings trat schnell ein, was einige progressive Akteure im Bildungssektor befürchtet hatten: Jeder, von Tante Ilse nebenan bis zum ehemaligen BDI-Chef Hans-Olaf Henkel, glaubte plötzlich, das Konzept schlechthin für eine Bildungsreform zu haben. Im Zuge dessen wurden dann die Pisa-Ergebnisse von progressiver, aber auch von konservativer Seite für den jeweiligen Bildungsbegriff und für die daraus resultierenden Reformvorschläge instrumentalisiert. Die CDU sah sich in ihrem Kurs der Elitenbildung und Selektion bestätigt, die Linke in ihrer Forderung nach einem integrativen Gesamtschulsystem.

Mit der ersten und jüngst erfolgten zweiten Veröffentlichung der nationalen Erweiterung der Studie (Pisa-E), in der die Ergebnisse der einzelnen Bundesländer in Verhältnis gesetzt wurden, setzte sich dieser hysterische Diskussionsstil fort.

Dabei wird oft vergessen, dass Pisa allein im Bereich der sozialen Mobilität eine valide Aussage trifft. Pisa stellt fest, dass in keinem anderen europäischen Land der soziale Hintergrund eines Schülers wichtiger für seinen Lernerfolg ist. Das deutsche Bildungssystem ist nicht in der Lage, diesen Umstand im Interesse wirklicher Chancengleichheit zu kompensieren.

Diejenigen, die sich je nach Gusto das eine oder andere Ergebnis der Studie zu Nutze machen, bewegen sich also auf sehr dünnem argumentativen Eis.

Wenn schon politische Konsequenzen aus den Ergebnissen der Studie gezogen werden sollen, dann, so ist zu fordern, bitte einzig und allein auf Basis der eben erwähnten einzig verlässlichen Aussage. Und wenn diese Feststellung gleichsam das Fundament für bildungspolitische Reformvorhaben sein soll, dann muss es radikal sein.

So geht etwa die BundesschülerInnenvertretung (BSV) davon aus, dass man mit allen Reformen (z.B. im Bereich einer neuen Lehr- und Lernkultur) letztlich an den Grenzen des selektiven bundesrepublikanischen Bildungssystems scheitern wird. Ein solch selektives System wird niemals in der Lage sein, die jeweilige Schülerin gemäß ihren individuellen Interessen und Fähigkeiten zu fördern und ihr dabei behilflich zu sein, ihren Lernprozess möglichst selbst zu gestalten.

So muss sich eine wirklich erfolgversprechende Reform zumindest um Folgendes kümmern: Abschaffung des mehrgliedrigen Schulsystems zu Gunsten eines weiterentwickelten Gesamtschulsystems, Abschaffung von Noten als Bewertungs- bzw. Selektionsinstrument zu Gunsten eines wechselseitigen mündlichen und ggf. auch schriftlichen Evaluationsprinzips zwischen Lehrenden und Lernenden.

Allerdings sind diese und andere radikale Reformen momentan leider nicht mehrheitsfähig. Der Grund dafür ist derselbe, der auch für die bildungspolitische Hysterie um Pisa verantwortlich ist – aber auch für Pisa selbst.

Die internationale Wirtschaft ist sich mehr denn je über den Faktor Bildung im Sinne eines humankapitalistischen Attributs im Klaren. Die OECD investiert nicht umsonst Millionen in die Pisa-Studie, nur um Staaten wie Deutschland quasi ein externes Evaluationsinstrument an die Hand zu geben. Der Reformdruck wird ganz bewusst forciert, und die gewünschte Reaktion findet statt: Wenn Deutschland die rote Laterne im Bildungssektor trägt, müssen wir unser System so reformieren, dass unsere Schüler im Sinne der Pisa-Studie und damit der OECD besser abschneiden. Das will nichts anderes heißen, als dass die Schülerinnen und Schüler im kapitalistischen Sinne international verwertbarer gemacht werden.

Nach wie vor steht der derzeit vorherrschende kapitalistische Bildungsbegriff einem emanzipatorischen und radikaldemokratischen gegenüber. Gerade jetzt müssen wir für Chancengleichheit, Demokratie und ein staatlich finanziertes Bildungswesen kämpfen. Bildung ist ein Grundrecht und keine international standardisierbare Ware!

Sebastian Schlüsselburg war 2001/2002 Bundesschülersprecher.