Der Bau des Mount Everest

Nach dem Anschlag auf das World Trade Center galten Hochhäuser als diskreditiert. Daniel Libeskind plant jetzt das steilste Gebäude der Welt. von tobias rapp, new york

Es war ein großer Auftritt, als der Architekt Daniel Libeskind am vergangenen Donnerstag im Wintergarten des World Financial Center vor die Öffentlichkeit trat, um sich dafür zu bedanken, dass sein Entwurf für die Bebauung von Ground Zero angenommen worden war. Die ersten Worte las er noch von einem Zettel ab, den er jedoch rasch in die Tasche steckte, um zu schildern, wie er als Junge von einem Dampfer namens »Constitution« aus, wie Millionen Immigranten vor ihm, die Freiheitsstatue und die Skyline von Manhattan zum ersten Mal sah. »Niemals werde ich diesen Anblick vergessen und wofür er steht«, sagte er, und dies sei es, wovon sein Entwurf handle.

Es war eine kleine Überraschung, dass Libeskind den Wettbewerb gewann, und es heißt, dass es nicht zuletzt seine unermüdliche Lobbyarbeit in eigener Sache gewesen sei, die ihm diesem Erfolg bescherte. Doch selbst wenn man sich die Leidenschaft wegdachte, mit der er an jenem Donnerstagvormittag seinen Entwurf vorstellte, die Emphase mit der er jedes kleine Detail des Designs zu erläutern wusste, bleibt Daniel Libeskinds Entwurf der visionärste. Der Konkurrenzentwurf der Think-Gruppe, eines All-Star-Teams New Yorker Architekten, der zwei fragile Stahltürme vorsah, die sich als World Cultural Center über dem Fundament des World Trade Center erheben sollten, wird, wie es in der New York Times etwas bedauernd hieß, »in das goldene Archiv einer Stadt, die niemals war«, eingehen.

Libeskinds Plan sieht an der Nordwestseite von Ground Zero den Bau eines Hochhauses vor, dessen Umrisse aus der Ferne an die Freiheitsstatue erinnern. Die Fläche, auf der einst die beiden Türme standen, soll frei bleiben und in einen Memorial Park verwandelt werden, den man durch ein Museum betreten soll, das sich über dem Park befindet. Am nordöstlichen Ende von Ground Zero schließlich soll der so genannte »Wedge of Light« entstehen, der Lichtkeil, eine Fläche, die jedes Jahr am 11. September zwischen 8.46 Uhr, dem Zeitpunkt, als das erste Flugzeug in das World Trade Center einschlug, und 10.28 Uhr, als der zweite Turm einstürzte, in schattenloses Sonnenlicht getaucht werden soll. Drumherum gruppieren sich fünf Bürohochhäuser, ein Hotel und ein Gebäude für Kulturveranstaltungen.

Das Besondere an diesem Entwurf ist, dass er wie kein anderer sowohl die realen Gegebenheiten vor Ort berücksichtigt, ja aus ihnen geradezu organisch herauszuwachsen scheint, und trotzdem der symbolischen Überdeterminierung von Ground Zero Rechnung trägt. Nirgendwo zeigt sich das so deutlich wie in Libeskinds Idee, die Betonwände so zu lassen, wie sie sind. Die Wände, die ursprünglich einmal errichtet wurden, um das Wasser des Hudson River davon abzuhalten, in das Fundament des World Trade Center zu laufen, haben die Anschläge unbeschadet überstanden und sind mittlerweile das Einzige, was vom WTC noch übrig ist

Das ist eine sehr respektvolle Art, an das Zerstörte und die fast 3 000 Menschen zu erinnern, die hier gestorben sind und für die diese Wände zu Mauern eines noch wochenlang brennenden Grabes wurden. Dadurch, dass Libeskind die Wände mit der amerikanischen Verfassung assoziiert – die Mauern seien »so eloquent wie die Verfassung«, in ihrer Standhaftigkeit hätten sie »die Demokratie und die Werte des individuellen Lebens« bewahrt, heißt es in den Erläuterungen zu seinem Entwurf –, gibt er ihnen aber gleichzeitig eine über ihre schiere Existenz weit hinausreichende symbolische Bedeutung. Dass sich das Hochhaus in die Höhe von 1 776 Fuß (das entspricht 530 Metern) erheben soll, 1776 wie das Jahr, in dem die Vereinigten Staaten ihre Unabhängigkeit erlangten, ist vielleicht etwas weniger elegant, aber genauso attraktiv. Höchstes Gebäude der Welt, und das wegen der Unabhängigkeit und Verfassung, wer würde da nein sagen?

Diese beiden Kernelemente von Libeskinds Entwurf wird wahrscheinlich auch niemand ablehnen. Über alle anderen geplanten Elemente dagegen – das Museum, die Bürotürme, das Hotel, das Gebäude mit den Kultureinrichtungen – dürfte in den kommenden Wochen und Monaten noch verhandelt werden. Der Wettbewerb, das wird oft übersehen, hatte das Ziel, einen Architekten für den Wiederaufbau von Lower Manhattan auszuwählen; es ging nicht um die Prämierung des Entwurfs.

Die ersten Änderungen fanden sich schon in dem überarbeiteten Modell, das Libeskind bei der Pressekonferenz vorstellte. Der überirdische halbrunde Fußgängerweg, der sich an der Westseite von Ground Zero über das Gelände ziehen sollte, ist verschwunden. Auch den riesigen hängenden Garten, der eigentlich die obersten Etagen des Hochhauses füllen sollte, gibt es nicht mehr. Stattdessen gibt es – um einiges prosaischer – nur noch ein Restaurant und eine Aussichtsplattform. Auch der Memorial Park, das Zentralstück seines Entwurfs, jene Fläche in der Tiefe des Fundaments von Ground Zero, die von den Betonwänden umschlossen sein soll, wird nun nicht mehr 25 Meter unter der Straße angelegt werden, sondern nur noch zehn Meter. Darunter soll ein großer Bahnhof gebaut werden.

Auch die fünf Bürohochhäuser, die sich in dem jetzigen Entwurf mit ihren angeschrägten Spitzen noch harmonisch in den Entwurf einfügen, werden nicht von Libeskind erbaut werden, sondern von Architekten, die Larry Silverstein auswählen wird, jener Immobilienunternehmer, der bis heute Pächter des World Trade Center ist. Silverstein hat sich bisher mit Aussagen darüber, was er sich für die Gegend vorstellt, zurückgehalten. Vor einigen Wochen schrieb er in einem Brief an das Wettbewerbsgremium, er lehne alle Entwürfe ab.

Seine zurückhaltende Position dürfte nicht zuletzt damit zu tun haben, dass der Rechtsstreit zwischen Silverstein und den Versicherungen über die Schadenssumme der eingestürzten Twin Towers noch immer nicht entschieden ist. Sollte das Gericht entscheiden, dass die Attacken vom 11. September zwei Anschläge waren (es waren zwei Flugzeuge), so bekommt Silverstein sieben Milliarden Dollar. Sollte das Gericht entscheiden, es war nur ein Angriff, so werden ihm nur 3,5 zugesprochen. Von dieser Entscheidung hängt ab, wie viel Geld er für den Bau seiner Bürotürme zur Verfügung hat. Experten gehen davon aus, dass er alle fünf Türme nur wird bauen können, wenn sich das Gericht überzeugen lässt, dass es sich bei dem Anschlägen auf das World Trade Center um zwei Attacken handelte.

So leidig es ist, immer wieder darauf hinzuweisen: Die verantwortlichen New Yorker Gremien haben mit der Entscheidung für Libeskind den Mut bewiesen, der ihren Berliner Kollegen Anfang der Neunziger fehlte, als es darum ging, den Alexanderplatz neu zu planen. Libeskind belegte mit seinem grandiosen Entwurf, der von einem Tagebucheintrag Alfred Döblins ausging, in dem es hieß, der Alexanderplatz sei die »linke Hand« der Stadt, nur den zweiten Platz. Es gewann Hans Kollhoff mit seinen Hochhausblöcken.

Die Situation, in die sich die Stadt hineinmanövriert hat – dass sich nämlich keine Investoren für den Bau der Hochhäuser finden und deshalb auch nichts gebaut werden kann –, hätte mit Libeskinds Entwurf vermieden werden können. Denn ähnlich wie bei seinem Ground-Zero-Design ging er von dem aus, was da ist, um dann eine offene Struktur für Veränderungen zu schaffen.

Was auch immer sich in den kommenden Monaten und Jahren – es wird mit einer Bauzeit von zehn bis fünfzehn Jahren gerechnet – an den konkreten Plänen verändern wird: Es macht die Größe von Libeskinds Entwurf aus, dass er, gerade wegen seiner Offenheit, im Kern nicht geändert werden kann.