»Der Mann ohne Vergangenheit«

Zombies blicken nicht zurück

Aki Kaurismäki spielte schon immer mit den Konventionen des Films. In »Der Mann ohne Vergangenheit« hat er sich jetzt des Amnesiemotivs angenommen.

Wie lebt es sich ohne Papiere? »The death-ship is it I am in, all I have lost, nothing to win«, ließ B. Traven in seinem Roman »Das Totenschiff« einen amerikanischen Seemann seine Lage nach dem Verlust aller Ausweispapiere besingen. 75 Jahre später schickt Aki Kaurismäki seinen Hauptdarsteller, das Gangsterface Markku Peltola, ohne Pass durch einen Parcours grotesker Situationen. Untergehen wie seinerzeit in Travens Roman muss aber niemand mehr. Und vor allem im Hinblick auf den düsteren Stummfilm »Juha«, mit dem sich der finnische Regisseur vor drei Jahren für zu viel Reden selbst bestrafen wollte, sind die Aussichten diesmal unerwartet optimistisch. Hellhörig macht allein schon, dass der ausgewiesene Nostalgiker seinen jüngsten Film »Der Mann ohne Vergangenheit« nannte.

Seinen Pass und sein Gedächtnis verliert der Mann, als er nachts in einem Park in Helsinki zum Opfer einer jugendlichen Schlägerbande wird. Nach vergeblichen Reanimierungsversuchen erklärt man den Namenlosen im Krankenhaus bald für tot. Doch kaum ist er allein, erhebt er sich, biegt sich noch schnell die Nase zurecht, die man schließlich braucht, damit beim Rauchen unter der Dusche die Zigarette nicht nass wird, und geht.

An den Kais gabeln ihn zwei Jungen auf und schleppen ihn zu sich nach Hause. Die Familie wohnt in einem Container. Einmal in der Woche wird geduscht, und dann geht's rein in den Anzug: »Heute ist Freitag, da gehen wir essen!«, verkündet der Familienvater. Der dank der guten Pflege Genesene folgt ihm und landet in der Schlange vor dem Suppentopf der Armenspeisung, wo er sich in die Heilsarmistin Irma (Kati Outinen) verliebt.

Treiben andere Amnesiefälle mit ihrer Suche nach einer verlorenen Identität die Handlung ganzer Filme an, interessiert sich M, wie das Presseheft den Namenlosen verschwörerisch nennt, gar nicht für seine Vergangenheit. Auch die anderen Bewohner der Siedlung verlieren keine Silbe über vergangene, vermutlich bessere Zeiten in ihrem Leben. Bei Kaurismäki wird die Obdachlosengemeinde gar zum Gegenstand eines noch größeren Gedächtnisverlustes. Sie sind die Vergessenen, die in Behausungen aus Stein wohnen. Zur Verteidigung gegen die Angriffe einer Schlägerbande ist ihr bedrohlich schlurfender Gang aber allemal gut.

Wie nebenbei stellt Kaurismäki in seinem Film das Motiv des Zombies vom Kopf auf die Füße, indem er mit seinen Urbildern spielt: der Ausbeutung und dem sozialen Tod. Im Vodoo, der Wiege des Zombie-Mythos, gilt als Zombie, wer zunächst unter dem Einfluss von Drogen in einen katatonischen Zustand versetzt wurde. Für tot gehalten und beerdigt, wird er wieder ausgegraben und zu einem willenlosen Sklaven seines Herrn, des so genannten Bocors. Haitis Diktatoren Duvalier, Papa und Baby Doc stellten sich bewusst in die Traditon dieser Magier. Doch bereits die weißen Sklavenhalter wurden als Bocors angesehen, war doch anders das Maß an Ausbeutung auf den Plantagen kaum zu erklären.

Als Sklaven, willenlose Diener einer obskuren Macht, oder auch domestizierte Frauen finden sich solche sozialen Toten vor allem in den frühen Filmen des Genres wie »White Zombie« (1932), »Revolt of the Zombies« (1936) oder »I Walked With a Zombie« (1942). Entscheidend an den entsetzlich weiß geschminkten Obdachlosen in Kaurismäkis »Der Mann ohne Vergangenheit« ist aber, dass ihr sozialer Ausschluss derart vollkommen ist, dass sie nicht mal mehr ausgebeutet werden. Ohne Papiere vom Sozialamt und einer Arbeitsvermittlungsagentur abgewiesen, versucht der Mann, auf dem Bau anzumustern. Ein Nummernkonto, so sagt man ihm, würde schon reichen. Der Versuch, eines zu eröffnen, endet in der Zelle einer örtlichen Polizeidienststelle.

Ein sprachgestörter Anwalt rettet ihn vor der Abschiebung in ein anderes Nirgendwo, und so setzt der Mann mit dem Gesichtsausdruck stiller Größe sein subsistenzwirtschaftliches Leben in der Containersiedlung fort. Von romantischer Verklärung findet sich keine Spur, Kaurismäki verstellt sie durch eine enge Kadrierung der Bilder.

Das Dasein jenseits staatlicher Anrufungen und hergebrachter Ausbeuter bringt neben unbekannten Freiheiten auch neue Profiteure hervor, wie den Wachmann, der die Container unter der Hand vermietet. Seine überzogenen Mieten versucht er mit einem völlig stumpfen Köter einzutreiben, der sich in den Mann ohne Vergangenheit verliebt, sodass der Wucherer mit den säumigen »Mietern« schnell ein Nachsehen hat.

»Der Mann ohne Vergangenheit« ist nach »Wolken ziehen vorüber« (1996) Kaurismäkis zweiter Film einer Trilogie zur Arbeitslosigkeit. Auf stilisierende Fünfziger-Jahre-Töne mochte Kaurismäki auch diesmal nicht verzichten. Allerdings finden die gewohnt nostalgischen Interieurs in der schäbigen Siedlung nicht mehr ganz so viel Raum wie zuvor.

Und für die Armut ihrer Bewohner kann niemand mehr verantwortlich gemacht werden. Zwingt in »Wolken ziehen vorüber« noch Vetternwirtschaft im Bankengewerbe die Restaurantchefin zur Entlassung ihrer Angestellten, sind nun sogar die Banken zum Spielball unsichtbarer globaler Kräfte geworden. Das muss der Boss einer Baufirma erfahren, als er mit Waffengewalt sein gesperrtes Konto plündern will, um seine Arbeiter auszuzahlen. Das meiste Geld ist längst weg, die Bank pleite.

Für gewöhnlich haben sich Kaurismäkis männliche Figuren in der Melancholie eines von Pomade und Schnaps gesättigten Halbstarkentums eingerichtet. Sie fahren immer noch einen Wolga oder Buick, es ist aber nicht mehr das eigene Auto. Noch immer hören sie Rock'n'Roll, doch das ist nicht genug. Der Mann ohne Vergangenheit will Musikmanager werden, was zusammen mit der auf Bluesrock getrimmten Kapelle der Heilsarmee auch einigermaßen gelingt. Was soll's, kein Name, kein Pass, kein Job, keine Stütze: Es gibt doch Arbeit in der Schattenwirtschaft. Zurück zum Sozialstaat oder zu Nokia will niemand mehr. Die Verluste sind gezählt, von jetzt an können wir nur noch gewinnen.

»Der Mann ohne Vergangenheit«. R.: Aki Kaurismäki. Finnland 2002. Start: 14. November