Lesarten einer Theorie der Befreiung

Die Masken des Frantz Fanon

Als Psychiater und Revolutionär hat Frantz Fanon sich in den fünfziger Jahren am Kampf gegen den französischen Kolonialismus beteiligt. Heute widmen sich ihm wieder zahlreiche Publikationen. Ist Fanon doch wieder aktuell?

Ende 1956 schloss sich Frantz Fanon im algerischen Befreiungskampf der FLN (Front de Libération Nationale) an. Ungeheuer ist der Abstand zwischen der gegenwärtigen Weltordnung und der Zukunftsvision, die Fanon mit dem Prozess der Dekolonisation verband. Fanon gilt als einer der Begründer der Dritte-Welt-Ideologie (tiers-mondisme).

Revolutionäre in Afrika, Ché Guevara, die Black Panthers und auch die noch in ihren Anfängen steckende Trikont-Solidaritätsbewegung der kapitalistischen Metropolen beriefen sich in den sechziger Jahren auf ihn, insbesondere auf sein Buch Les Damnés de la Terre von 1961 (dt. Die Verdammten dieser Erde, 1966). Auf der Gegenseite war Fanon als Nationalist und Irrationalist, als schwarzer Rassist und Gewaltprediger verschrien. Hannah Arendt schrieb ihm 1969 in On Violence (dt. Macht und Gewalt, 1970) ein Denken in »organisch-biologischen Kategorien« zu. Orthodoxe Parteikommunisten sahen in Fanon einen Spontaneisten und Populisten, der die kolonisierte Landbevölkerung und das städtische Lumpenproletariat verherrlicht habe. Die gegenwärtigen Diskussionen um seine Schriften, vor allem in Britannien und den USA, haben mit derlei Zuschreibungen und Verfälschungen allerdings nur noch wenig zu tun.

Fanon in der Postmoderne

Stuart Hall und Homi K. Bhabha, prominenteste Vertreter der »Postcolonial Studies«, einer Unterabteilung der schon seit Jahrzehnten bestehenden »Cultural Studies«, haben eine neue Begründung für ihre Wiederentdeckung Fanons geliefert. Sie heben die postmoderne Ambivalenz seiner Argumentation hervor, insbesondere was das Spannungsfeld zwischen »freiem Subjekt« und »Fremdbestimmung« in seiner Subjekttheorie betrifft. Ja, sie betonen die ambivalente Identität des Autors selbst und gleiten so in einen merkwürdigen Biografismus ab, der Fanon eine Lebensgeschichte hybrider Identitätsbildung verpasst. Vor allem anhand des 1952 im Pariser Verlag Editions du Seuil erschienenen Buchs Fanons, Peau noire, Masques blancs (dt. Schwarze Haut, weiße Masken, 1980), machen sie ihn zu ihrem Vorläufer. Fanons Leben, Fanons Texte - eine Terra incognita des Postmodernismus und des Postkolonialismus?

Die Verschiebung des Interesses von Die Verdammten dieser Erde zurück auf Schwarze Haut, weiße Masken ist allerdings bemerkenswert, zumal die sprechenden Titel einer Wendung von der modernen Gesellschaftskritik mit ihrer Rhetorik von Unterdrückung und Befreiung hin zu einem postmodernen ironischen Pastiche gesellschaftlich zugewiesener Identitätsmuster entgegenzukommen scheinen. Wer Schwarze Haut, weiße Masken heute liest, wird mit Erstaunen feststellen, wie subtil Fanon bereits 1952 rassistische Mystifikationen zu analysieren und zu kritisieren verstand. Von alltäglichen Begebenheiten und sprachlichen Umgangsformen über literarische Texte bis zu psychologischen Diagnosen zeigt er darin, wie den Schwarzen unter dem »weißen Blick« die Hautfarbe zum Stigma der eigenen Existenz wird. Mit seinem ersten Buch steht Fanon am Beginn einer kritischen Rassismustheorie, in der »Rasse« nicht als »tatsächliche Gegebenheit« (Arendt) angenommen ist, sondern als Konstrukt einer bestimmten sozialen Situation ausgewiesen wird.

Eine Phänomenologie des Rassismus

Die Grunderfahrung liegt für Fanon darin, dass das eigene »Körperschema« zusammenbricht und einem »epidermalen Rassenschema« Platz macht. Gemeint ist eine Situation, in der die sichere Wahrnehmung der unmittelbaren Umgebung aufgrund des eigenen körperlichen Befindens durch die Erfahrung der Stigmatisierung aufgelöst wird. Fanon erläutert sie mit dem einfachen Beispiel einer Eisenbahnreise, auf der ein Kind zu seiner Mutter den auslösenden Satz sagt: »Mama, schau doch, der Neger da, ich hab Angst.« Das zweite Wahrnehmungsschema erfährt seine Weiterungen, indem es zur symbolischen Ordnung überleitet, die das »kollektive Unbewusste« beherrscht. »In Europa«, so schreibt Fanon, »wird das Böse durch das Schwarze dargestellt.« Als Bhabha 1986 in seinem Vorwort zur englischen Neuausgabe von »Schwarze Haut, weiße Masken« auf die Dringlichkeit einer Wiederaufnahme von Fanons Thesen hinwies und so etwas wie das Gründungsmanifest der »Postcolonial Studies« verfasste, drehte er dessen Argumentation einfach um. Dringlich sei eine erneute Lektüre von Fanon, weil den sich unter dem Banner »blackness« sammelnden Gruppen »ein öffentliches Bild von der Identität des Andersseins« fehle. Fanon soll helfen, das »entscheidende Engagement zwischen Maske und Identität, zwischen Bild und Identifikation« anzumahnen, aus dem Bhabha die eigene Freiheit und das eigene Selbst als das gesellschaftlich Andere herleitet. Bhabha entwirft eine neue Identität der »people of colour«, Fanon dagegen eine Phänomenologie des Rassismus.

Darin folgt er der Phänomenologie des Antisemitismus von Jean-Paul Sartre. Dessen Überlegungen zur Judenfrage von 1945 zieht Fanon immer wieder zum Vergleich heran, notiert Parallelen und Unterschiede in der Diskriminierungspraxis. Es geht um Sichtbares und Unsichtbares, körperliche und kulturelle Stigmata, auch um Macht oder Ohnmacht, um Differenzen und Hierarchien also, die Wahrnehmungen und Phantasmagorien unter dem »weißen Blick« organisieren. Freilich teilt Fanon auch Sartres Unzulänglichkeit. Da Sartre sich offenkundig gescheut hat, die Analyse von der Logik der Diskriminierung zur »Logik des Terrors« weiterzutreiben, um eine Formulierung von Leo Löwenthal aufzugreifen, bleiben die Dimensionen der NS-Vernichtungspraxis weitgehend außen vor. Unter dem Gesichtspunkt des Terrors irrt Fanon, wenn er glaubt, der Antisemitismus ziele auf die Juden in ihrer geistigen und zivilisatorischen, nicht in erster Linie aber wie der Rassismus und die »Negrophobie« auf die unmittelbare physische Existenz.

Fanons Ansatz geht in der Analogie zu Sartres Phänomenologie jedoch nicht auf. David Macey, Autor einer umfangreichen Biografie (Frantz Fanon. A Life, 2000), hat Schwarze Haut, weiße Masken in Anlehnung an Claude Lévi-Strauss als »bricolage« charakterisiert. Fanon nehme einzelne Aspekte des Hegelianismus, des Marxismus, der Existenzphilosophie von Sören Kierkegaard bis Karl Jaspers, der Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty und des existenzialistischen Humanismus von Sartre sowie der psychoanalytischen Theorie bei Sigmund Freud selbst, aber auch bei Alfred Adler und Jacques Lacan auf und setze sie zu einem Instrument zusammen, um die »eigene Situation und Erfahrung zu erklären und zu analysieren«. Wenn dies aber eine zutreffende Beschreibung ist, so findet die Menge an unterschiedlichen Interpretationen, die Leserinnen und Leser der neueren Literatur über Fanon möglicherweise verwirrt, leicht eine Begründung. Sein Text lädt förmlich dazu ein, an einer bestimmten Stelle anzusetzen, um sich dann eine Fanon-Maske zu schnitzen, einen Lacanianer, wie Bhabha es tut, oder wie andere einen Hegelianer, Existenzialisten, Humanisten, Marxisten.

Das Problem der Anerkennung

Nach dem Zweiten Weltkrieg maßen französische Intellektuellenkreise Hegels Herr-Knecht-Dialektik, der Problematik der Anerkennung des Anderen, der ein Kampf auf Leben und Tod vorausgeht, zentrale Bedeutung bei. »In Hegel hat alles seinen Anfang, was sich seit einem Jahrhundert an Großem in der Philosophie ereignet hat«, schrieb Merleau-Ponty 1946 in Les Temps modernes. Der Einfluss des Leibphänomenologen auf Fanon wird bis heute weithin unterschätzt. In Schwarze Haut, weiße Masken antwortet Fanon dann vor allem auf diese Hegel-Rezeption, indem er auf die Asymmetrie der sozialen Macht zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten verweist. Selbst wenn der »Sklave« in die Freiheit entlassen werde, bedeute dies nicht seine Anerkennung als anderes Selbstbewusstsein. »Bei Hegel geht es um Gegenseitigkeit«, notiert Fanon, »hier pfeift der Herr auf das Bewusstsein des Sklaven. Er will nicht seine Anerkennung, sondern seine Arbeit.« Die Arbeit kann daher nicht eine Aufhebung des Kampfs um Anerkennung sein: »Bei Hegel wendet sich der Sklave vom Herrn ab und dem Objekt zu. Hier wendet sich der Sklave dem Herrn zu und gibt das Objekt auf.« Fanon will zeigen, wie die Ausarbeitung einer Phänomenologie des Rassismus den Eurozentrismus in moderner, auch linker Theorie und Philosophie offenbart.

Daher rühren seine Angriffe auf den Surrealisten André Breton und den Existenzialisten Sartre, wenn sie die Literatur der »négritude«, etwa die Texte von Aimé Cesaire oder Léopold Sédar Senghor, für ihre »Weltanschauung« in Anspruch nehmen. Den Ethnografen Michel Leiris zitiert er dagegen durchweg zustimmend. Für Leiris wie für Fanon ist die »négritude« eine vorübergehende Haltung, die es den schwarzen Dichtern erlaube, die »Integrität ihrer eigenen Person« gegenüber dem »Hochmut der weißen Kolonisatoren« (Leiris) zu behaupten. Doch Fanon lag es fern, zu ihrem Verfechter zu werden. In seinen Augen ist die »négritude« eine mystifizierende Replik auf die rassistische Mystifikation. Im Kontext der »Postcolonial Studies« firmiert sie dagegen erneut, wie Hall es ausdrückt, als eine »äußerst machtvolle und kreative Kraft für die sich entwickelnden Repräsentationsformen heute marginalisierter Völker«. Fanon drängte über solche Repräsentationsformen hinaus, weil er in ihnen eine Fixierung an den stigmatisierten Körper vermutete. Er wollte die Anerkennung als denkender Mensch, als intelligibler Körper: »O mein Leib, sorge dafür, dass ich immer ein Mensch bin, der fragt!« So endet das Buch von 1952.

Fanon heute

Es war Fanons Hoffnung, die Gegner im antikolonialen Befreiungskampf würden schließlich erkennen, dass es in ihrem Interesse ist, »diesen Kampf zu beenden und die Souveränität des kolonisierten Volkes anzuerkennen«. Er war der Auffassung, dies könne nur durch die im Befreiungskampf konstituierte Staatsnation erreicht werden. Seine paradoxen Formulierungen vom »Nationalbewusstsein, das kein Nationalismus ist« und das »internationale Bewusstsein« entwickelt und belebt, zeigen schon früh die Spannung zwischen den realen Gefahren der Nationalisierung und seiner Vision internationaler Emanzipation an. Und so kommt er auf die Problematik der Anerkennung zurück, wenn er in Die Verdammten dieser Erde im Blick auf die nationale Kultur feststellt: »Das Selbstbewusstsein ist kein Sichabschließen gegenüber der Kommunikation.«

Wer in dieser Perspektive Fanons Klassen- und Gewalttheorie neu lesen will, wird kaum nach fertigen Antworten Ausschau halten.

Alice Cherki hat in ihrem Buch Frantz Fanon, das dieses Jahr in der Hamburger Edition Nautilus auf Deutsch erschienen ist, unter der Überschrift Fanon heute behutsam einen Wink gegeben. Fanon, so sagt sie, habe eine »semiotische Infiltration der Sprache« betrieben, um dem französischen Kolonialismus zu begegnen. Nach der Dekolonisation stellt sich erneut die Frage nach einer Sprache, die Macht und Herrschaft in der gegenwärtigen Weltordnung zu fassen vermag und eine neue Kommunikation zwischen Süden und Norden ermöglicht. Vielleicht ließe sich auch heute mit einer Infiltration der Sprache neoliberaler Globalisierung beginnen. Vorerst wären so die »wirklichen Erfindungen und Entdeckungen« wieder zur Sprache zu bringen, die Fanon bei der Überwindung eurozentristischer Politik als unerlässlich ansah.