Annette K. Olesens »Kleine Missgeschicke«

Es gibt ein Leben nach dem Tod

Wieder einmal kommt ein toller Film aus Dänemark in die Kinos. Annette K. Olesens »Kleine Missgeschicke« wirkt wie ein Dogma-Film, ist aber witziger.

Spießiger Zierrat hängt an den Wänden der schlichten Kopenhagener Wohnung, und das Gespräch am Mittagstisch dreht sich um Tagesroutinen. John (Jorgen Kiil), seine Frau Ulla und die erwachsene Tochter Marianne (Maria Würgler Rich) haben es eilig. Mutter ist schon aufgestanden, da fällt Johns Oberkörper plötzlich nach vorn. Sein Kopf landet im Teller und bleibt regungslos in den Essensresten liegen. John ist herzkrank, und vor allem liebt er makabre Späße. Sekunden später hebt er sein beschmiertes Gesicht aus dem Teller und glaubt, dass sein Manöver ein grandioser Gag sei. Ulla und Marianne kennen den Trick schon und zeigen sich wenig beeindruckt.

»Comedy is about tragedy«, wissen die Profis des Genres, zu denen die Jungregisseurin Annette K. Olesen vielleicht einmal zählen wird, und so bleibt der Tod in ihrem Debütfilm »Kleine Missgeschicke« trotz aller Komik eine ernste Angelegenheit.

Der infantile John arbeitet als Portier in einem Kopenhagener Krankenhaus, wo er immer wieder für die kranken Kinder den Clown spielt. Als seine Frau Ulla nach 46 gemeinsamen Ehejahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt, merkt der plötzlich verwitwete Mann schmerzlich, was es heißt, die ganze Verantwortung für die Familie zu haben. Bisher war seine Frau der Boss, und von nun an ist er auf seine drei erwachsenen Kinder angewiesen.

Sie reagieren sehr unterschiedlich auf die neue Situation. Die Älteste unter den Geschwistern, die lesbische Künstlerin Eva (Jannie Faurschou), zeigt sich ungerührt. Sie zieht gerade zu ihrer Freundin nach Kopenhagen, um sich wieder ganz der Malerei zu widmen. Marianne, die mit Ende 20 noch immer nicht flügge gewordene Jüngste, ist gerade im Begriff, mit einem neuen Job und einem ersten Freund, erwachsen zu werden. Sie trauert um den Verlust der Mutter und kümmert sich um den anlehnungsbedürftigen Vater.

Ihr Bruder Tom, der erfolgreiche Bauunternehmer, stürzt sich noch tiefer in die Arbeit. Weil für seine Frau und seine zwei Kinder kaum mehr Zeit bleibt, taumelt er geradewegs in eine Beziehungskrise. Dann taucht auch noch Johns Bruder Sören (Jesper Christensen) auf. Auch er ist reichlich angeschlagen, sucht Trost und Anschluss, da seine Frau Hanne (Karen-Lise Mynster) ein Verhältnis mit einem anderen hat. Andererseits kann ein Frührentner wie Sören, dessen Lebensplan im Wesentlichen vorsieht, dass er Zigaretten rauchend vor dem Fernseher sitzt, nicht erwarten, dass die Frauen ihm zu Füßen liegen.

»Kleine Missgeschicke« erzählt bis ins schöne Detail ausgeklügelte Geschichten, die mit Anspielungen auf Missbrauch und Inzest spannungsvoll aufgeladen werden. So vermutet Eva, dass ihre Schwester Marianne mit dem Vater ein sexuelles Verhältnis hat. Ein Verdacht, der sich zu einer Art fixen Idee ausweitet. Wüsste der Zuschauer zum Zeitpunkt dieser Szenen schon etwas mehr über Eva, wäre die plötzliche Überreaktion leichter verständlich, und auch Sörens Beziehung zu Hanne erschiene in einem anderen Licht. Evas Hysterie klärt sich einige Sequenzen später auf, als sie ihrem Bruder Tom beiläufig die »100 Jahre alte« Geschichte anvertraut. Als 14jähriges Mädchen wurde sie von ihrem Onkel Sören nach einer Familienfeier vergewaltigt.

Der Drehbuchautor Kim Fupz Aakesons, der mit »Mirakel« als Kinderfilmautor bekannt wurde, nutzt das Familienszenario vor allem für eine wundervolle Situationskomik und herrlichen Dialogwitz. Hier sind die Männer wie im richtigen Leben; sie dürfen mit dem Elektroschredder in gepflegten Rosenbeeten wüten oder so unkorrekte Äußerungen wie »Lesben sind keine Lesben, sondern frustrierte Frauen, die keinen abgekriegt haben« von sich geben. Der machohafte Tom verhält sich zu seiner älteren Schwester Eva wie ein verständnisvoller Freund, und der sauertöpfische Sören wechselt ständig zwischen der Softie- und der Rabaukenrolle, gibt sich mal schwächlich und mal wüst.

Auch die Frauen sind in »Kleine Missgeschicke« mit Fehlern und Macken ausgestattet. So leidet Eva an ihrem Sarkasmus und einer Blockade ihrer Kreativität beim Malen, während Marianne ihre Emotionalität nicht in den Griff bekommt und ihr immer wieder die Gesichtszüge entgleisen. Die Figuren stellen ganz normale dänische Kleinbürger dar und sind zugleich erschreckend skurril gezeichnet, weshalb der Zuschauer nie weiß, was als nächstes geschieht. Im Stil der Dogma-Filme kommt die bewegliche Handkamera den Schauspielern ganz nah und nimmt gelegentlich die subjektive Perspektive ein, beispielsweise bei den Orientierungsläufen, auf denen Marianne die Selbständigkeit probt, oder wenn Tom wieder einmal zu spät nach Hause kommt und von seiner Frau vor die Tür gesetzt wird. Statt musikalischer Untermalungssauce dringt Musik selten, dezent und realistisch aus Autoradios oder Diskotheken.

Zwischen den verschiedenen Handlungsebenen wechselt die Erzählung mühelos hin und her; sie verzichtet dabei auf eine umständliche Einführung der Protagonisten und spinnt die einzelnen Stränge locker um das Zentrum des Films, die Beisetzung der Mutter.

Eine Beerdigung ist gewöhnlich eine tabuisierte Angelegenheit. Doch das Kino zumindest kann mit dem Trauerritual etwas anfangen, und insbesondere die dänischen Regisseurinnen scheinen sich neuerdings darauf spezialisiert zu haben. Unverkennbar hat sich Olesen von Lone Scherfigs »Italienisch für Anfänger«, dem ersten Dogma-Film einer Frau, inspirieren lassen. Bot dort die Verwechslung von zwei Särgen Anlass zur Komik, so ist es in »Kleine Missgeschicke« die Verspätung des Leichenwagens, die für unerwartete Dynamik sorgt. Eva, Tom, Marianne, Sören und John manövrieren gemeinsam das sperrige Monstrum zwischen der Bahre und dem Ausgang hin, her und wieder hin. Die Blicke, die sich dabei kreuzen, erzählen wie Kurzspots die verzwickte Familiengeschichte.

Obwohl »Kleine Missgeschicke« nicht mit dem Dogma zertifiziert ist, gelingt auch Olesen eine ungekünstelte Fiktion, die die Regisseurin als Gegenentwurf zum kommerziellen Genrekino verstanden wissen will. Explizit bezieht sie sich mit ihrer Improvisationstechnik auf die Methodik des britischen Regisseurs Mike Leigh. Wie Leigh begann Olesen die Filmarbeiten nicht mit einem fertigen Script und ausgearbeiteten Figuren, sondern ließ ihren Schauspielern bei der Gestaltung der Rollen alle künstlerischen Freiheiten. Das Authentizitätskalkül ging auf. Der Film besitzt die Glaubwürdigkeit von Dogma-Material, ist aber viel unterhaltsamer als das Puristenkino.

»Kleine Missgeschicke« (Dänemark 2001); Regie: Annette K. Olesen. Darsteller: Jürgen Kill, Maria Würgler Rich, Jannie Faurschou. Start: 26. September