Indoor-Freeclimbing

Die die Wände hochgehen

Die Sportwerdung des Freeclimbing ist abgeschlossen.

bruno engelin

Manchmal sieht man sie, wenn man vor den Auslagen des U-Bahn-Kiosks stehen bleibt und die Titelblätter ihrer Magazine betrachtet. Auch im DSF und auf Eurosport sind Freeclimber manchmal zu sehen, aber wer schaut schon DSF? Die Fotos, die wir sehen, zeigt Menschen, die Glasfassaden hochklettern, vom Meerwasser ausgewaschene Klippen bezwingen oder sich manchmal auch an ganz normale, wenngleich ziemlich steile Berge heranwagen. Der Augenschein besagt, dass etwas Übernatürliches geleistet wird.

Klettern ist ein Trendsport, betrieben von jungen Menschen, die viel Haut zeigen, bunte Kleidung tragen und denen man zutraut, bei einer Dopingprobe des Marihuana- oder Ecstasy-Konsums überführt zu werden. Aber so oft sieht man ja Freeclimber nicht.

In ausgewiesenen Klettergebieten wie der Sächsischen Schweiz südlich von Dresden oder dem Rosengarten in den Dolomiten ist das ein bisschen anders. Da kommen sie morgens, wenn das Wetter trocken bleibt, an die Wände, bereiten sich ein wenig vor und gehen sie dann hoch, die Wände.

In Berlin gibt es gleich zwei Kletterhallen, ehemalige Fabrikgebäude mit hohen Decken und Kletterwänden aus Holz, in die farbige Griffe und Tritte geschraubt wurden. Mit einem Partner, der sichert, kann hier Top-Rope geklettert werden; ein Seil ist oben durch einen Haken gezogen, die Sicherung kann von unten aus erfolgen.

Die »T-Hall« in Berlin-Neukölln bietet auf 1 000 Quadratmetern Kletterfläche 130 verschiedene Routen an, Schwierigkeitsgrad IV ist das Minimum. Das »Magic Mountain Climbing Center« im Berliner Wedding, das noch in diesem Juli eröffnen will, wirbt sogar mit 2 000 Quadratmetern Kletterfläche und 200 Routen. Die Konstruktionen in beiden Hallen sind nicht aus Stein, sondern aus Holz, aber sie sind funktional. Überhänge etwa sind eingebaut, die es zu umsteigen gilt. Es gibt Routen für Profis und für nicht sehr Erfahrene. Berge sind hier nachgebaut, bloß sind die Bergimitationen keine Steinhaufen und Felsformationen, sondern Pressspanplatten, die an Holz- und Stahlgerüste geschraubt sind.

Für Berlin sind Kletterhallen neu, in anderen Städten, gerade in der Alpenregion, sind sie schon längst verbreitet. Indoor-Climbing, so lautet der Fachausdruck, ist eine besonders sportliche Variante des Freikletterns, und das wiederum ist eine Besonderheit des Bergsteigens.

Von Alpinismus spricht man etwa seit der Erstbesteigung des höchsten Alpengipfels, des französischen Mont Blanc im Jahr 1786, und das Bergsteigen verbreitete sich gleichzeitig zur Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft. Dass es sich bei dem Drang, möglichst hohe Gipfel zu besteigen, um einen Sport handelte, war früh klar. »Ja, es gibt einen Bergsport«, schrieb 1927 Ernst Enzensperger in einem Sammelband zum Sport. »Denn der Leitgedanke jedes wirklichen Sportes, die bewusste oder unbewusste ständige Steigerung der Leistungsfähigkeit im Können, der Leistung im Ziel ist im Bergsteigen wie kaum bei einem anderen Sporte gegeben.« Gipfelrekorde wurden registriert: der höchste Berg, am schnellsten bestiegen, die meisten hohen Berge etc.

Von einer »neuen Seite des echt sportlichen Charakters des Bergsports« berichtete Enzensperger auch: »Die zunehmende Spezialisierung. Die Geschichte des sportlichen Bergsteigens zeigt Persönlichkeiten, die in den Felsbergen Überragendes leisteten, Bergfahrten im Eis aber völlig mieden; sie zeigt umgekehrt große Eisgänger, die auf dem Gebiete des reinen Kletterns den Durchschnitt nicht überragten.«

Zu den Ersten gehörten die frühen Freikletterer. Sie fanden sich freilich nicht in den Alpen ein, sondern im Elbsandsteingebirge in der Sächsischen Schweiz. Der besondere Stein dort verlangte förmlich ein Verbot des Hakensetzens, es mussten Schlingen gelegt werden, deren einzige Funktion das Sichern des Kletterers beim Sturz war. Im Laufe der Jahre entstanden harsche sächsische Kletterregeln, und der Umstand, dass die DDR sich vom bergsteigerischen Weltgeschehen abschottete, sorgte erst recht für die Einhaltung der Regeln.

Doch zu dieser Zeit sperrte sich noch die gesamte Kletterei dem allzu heftigen Zugriff der Tourismusindustrie. In den sechziger Jahren nahm im Yosemite-Park in Kalifornien, nicht sehr weit entfernt von den Stränden, vor denen die ersten Surfer im Meer kurvten, das Klettern einen neuen Aufschwung. Eher der Alternativbewegung zugewandt, war Klettern zunächst eine individualistische und nicht kommerzielle Betätigung.

Hier bildeten sich auch neue Ziele des Kletterns heraus. Nicht mehr um das Erreichen des Gipfels ging es, sondern um die Bewältigung von immer mehr anwachsenden Schwierigkeitsgraden. Was erst die Ablehnung des früheren bergsteigerischen Rekordgedankens war, wurde bald das Fundament eines neuen Sports. 1985 wurde im italienischen Bardonecchia erstmals ein internationaler Sportkletterwettkampf ausgerichtet.

Mittlerweile gibt es bei solchen Wettbewerben drei Disziplinen: das Schnellklettern, das Schwierigkeitsklettern und, als jüngste Sportart, das Bouldern. Hier wird ohne Sicherung in so geringer Höhe geklettert, dass ein Absturz nicht gefährlich wäre. Üblicherweise ist Bouldern Klettern an kleinen Felsbrocken zu Übungszwecken, aber es hat sich auch zu einer Sportart entwickelt. Eine weitere Ausdifferenzierung zeigt sich bereits, Eisklettern an künstlich produzierten Eiswänden etwa oder auch Fassadenklettern.

In Bergsteigerkreisen legt man Wert darauf, dass es sich beim Freeclimbing, also dieser neuen Art des Sportkletterns, um eine eigenständige Sportart handelt. Mit ihr ist gelungen, was dem Bergsteigen schon wegen seiner Voraussetzung, der Berge, nicht gelingen kann: der Einzug in die Großstädte. Geklettert werden kann ja nicht nur an Felswänden, sondern beinahe überall: an Haus- und Bunkerwänden wie auch an extra produzierten Kletterwänden aus Holz. Und in großen Städten finden sich auch Zuschauer ein, denen man Stühle auf dem größten Platz des Ortes hinstellt.

Indem Sportklettern eine professionell betriebene Sportart wurde, musste sie auch ökonomisch kalkulierbar, sprich: vom Wetter unabhängig werden. Indoor-Climbing bot sich an, auch als Möglichkeit des ganzjährigen und vom Wetter unabhängigen Trainierens. Das bietet auch den Vorteil der Risikokalkulation und -minimierung: die häufigsten Unfallursachen, Wetterumschlag oder Steinschlag, fallen weg. Als umweltfreundlich gilt es obendrein, denn wer in der Halle klettert kann nicht seine Haken und seinen Müll am Berg zurücklassen.

Das Klettern befriedigt die Sehnsucht nach Grenzerfahrungen, nach scheinbar übernatürlichen Leistungen. Seine Einbettung in die bürgerliche Gesellschaft bedeutet die Domestizierung und letztlich Verwertbarmachung dieser Form der Befriedigung. Aber diese Vergesellschaftung erfolgt aus nachvollziehbaren und zu begrüßenden einzelnen Gründen. Was bleibt, ist die Anerkennung als Sport und die Übertragung im DSF.