»Kraft der Negation«

Das Ich-bin-dagegen

Auf dem Kongress zur »Kraft der Negation« fehlten die Gruppierungen, die das Neinsagen praktizieren.

Als ich in der sechsten Klasse war, also etwa elf Jahre alt, entdeckte ich zum ersten Mal dieses merkwürdige Zeichen an der Wand. Ein A mit einem Kreis darum. Schon vorher muss es diese As gegeben haben, aber erst jetzt nahm ich sie wahr. In der Schule waren sie an die Mauer der Turnhalle gesprüht, an der Bushaltestelle war auch eins und auf den Klos sowieso.

Diese As besaßen die Aura des Verbotenen und waren einigermaßen rätselhaft. Der zwei Jahre ältere Bruder eines Klassenkameraden hatte diesen verhauen, als er entdeckte, dass der Jüngere ein A auf seinem Schreibmäppchen hatte, dessen Kreis den Buchstaben komplett einschloss. Ein Bein des A müsse herausgucken, gab der Ältere ihm zu verstehen, und wer das nicht wisse, der solle es unterlassen, irgendwo As hinzumalen, denn A stehe für Anarchie, und wer davon keine Ahnung habe, der sei eh bescheuert und verdiene es, ein paar auf die Mütze zu bekommen.

Das erklärte nun einiges, aber doch nicht besonders viel. Anarchie, was war denn das nun wieder? Seinen großen Bruder wollte dieser Klassenkamerad nicht fragen, so ging ich zu meiner Mutter. Die sagte, das A sei das Zeichen der Anarchisten, und die Anarchisten, das seien die, die sagen würden: »Ich bin dagegen!« Das fanden mein jüngerer Bruder und ich äußerst faszinierend. Mit der Band, die wir mit den Nachbarsjungen betrieben und deren Instrumentierung aus den Kinderzimmerstühlen und einem Kindersynthesizer bestand, spielten wir eines Nachmittags ein Lied ein, das viele Strophen hatte, die allesamt davon handelten, was wir alles ablehnten, um im Refrain immer wieder auf den zentralen Punkt zurückzukommen. Während mein Bruder ein Geräusch zischen musste, das sich anhören sollte wie Farbe, die aus einer Sprühdose kommt, sang ich: »Ahhhh! Ich bin dagegen!«

Schon damals bestand ein nicht geringer Teil der Faszination des »Ich bin dagegen!« genau darin, keine Letztbegründung anführen zu müssen. Das fanden wir besonders gut. Egal welches Thema, egal welche Frage. Die Möglichkeit war bestechend, sich die Frechheit herauszunehmen, einfach »Ich bin dagegen!« zu sagen, ohne Alternativen aufzeigen oder sich sonst irgendwie auf die Themen oder Fragen einlassen zu müssen. Natürlich spürten wir, dass dies - in einer Erwachsenenlogik gedacht - eigentlich unredlich war. Aber wenn die Erwachsenen so scheiße sind? Ist das etwa unser Problem?

Natürlich hätte uns jeder, der nach dem Warum gefragt hätte, aus dem Konzept bringen können; das machte aber niemand. Schließlich waren wir elfjährige Jungs, und wenn die ständig »Ich bin dagegen!« durch die Gegend posaunen, findet man das entweder putzig oder nervig. Aber hätte tatsächlich jemand gefragt, warum wir eigentlich gegen dies und jenes sind, hätten wir uns wahrscheinlich geweigert, ernsthaft zu antworten und hätten dem Frager stattdessen ein lautes »Ich bin dagegen!« ins Gesicht gesungen. Dann wären wir schnell weggerannt.

Das war 1982. Andernorts wurden Häuser besetzt, die autonome Bewegung lieferte sich Straßenschlachten mit der Polizei, und an ganz anderen Orten, manchmal aber auch denselben Orten, an denen die Schlachten tobten, war ein Teil der Popkultur zu dem Schluss gekommen, das einzige Mittel, das man noch sinnvoll anwenden könne, um irgendwie dagegen zu sein, sei die strategische Affirmation der Verhältnisse. Kurz vorher war ein Autor aufgetaucht, der zuerst in Hamburg die Redaktion der Zeitschrift Sounds durcheinanderwirbelte und schließlich nach Köln ging, um Herausgeber der Spex zu werden: Diedrich Diederichsen.

Was dies alles miteinander zu tun hat? Und warum diese Einleitung, wo es doch eigentlich um den Kongress »Kraft der Negation« gehen soll, der am vorvergangenen Wochenende in Köln und Berlin stattfand? Weil all die aufgezählten Dinge Fragen berühren, die bei diesem Kongress verhandelt werden sollten, Fragen, die im Übrigen auch für jede Leserin und jeden Leser dieser Zeitung von übergeordnetem Interesse sind. Denn wer kein inniges Verhältnis zu dem »Ich bin dagegen!«-Satz unterhält, wird andere Möglichkeiten finden, sich für 2,80 Euro interessant unterhalten zu lassen.

Worum ging es also? Ausgangspunkt der Überlegung, diesen Kongress zu kuratieren, so beschrieb es Diederichsen in seinem Eröffnungsvortrag (den man übrigens in der aktuellen Ausgabe von Theater heute nachlesen kann), war es, in einer Bar Punkrock zu hören. Eine Musik also, die irgendwann einmal aus einem Gestus radikaler Negation und gezielter Kommunikationsverweigerung entstanden war, die sich aber nun ganz anders anhörte, nämlich nach einer Musik, die eben nur noch für einen musikalischen Code neben anderen stand und als solche bestenfalls zur Etablierung einer weiteren Geheimsprache taugte. Ungefähr zur gleichen Zeit, so Diederichsen, sei mit dem Globalisierungsgegner ein politisches Subjekt aufgetaucht, das sich beim Politikmachen Strategien bediene, die im vergangenen Jahrhundert eher den künstlerischen Avantgarden zugerechnet worden seien: Nein zu sagen, ohne dies im Namen von etwas zu tun.

Die Negation sei eine der zentralen transgressiven Gesten der Kunst des vergangenen Jahrhunderts und ziehe sich durch die ästhetische Praxis vieler künstlerischen Avantgarden: Sei es in Form einer adornitischen Negation eines Inhalts, die zum Formprinzip wird, oder als aggressiv-destruktive Negation der Kunst als solcher.

Doch ausgerechnet heute, wo die Negation in der radikalen Politik eine Renaissance erlebe, wo sie aus der Haltung des »Ich will so nicht leben« entstehe, sei sie in der Kunst auf dem Rückzug. Denn so politisch die Kunst der Gegenwart auch sei - etwa auf der aktuellen Documenta -, eben jenes Politisch-Sein könnte man auch als Kommunikationsangebot verstehen, um die komplizierte ästhetische Oberfläche der Welt überhaupt noch verstehen zu können.

Um diese Fragen und darum, wie und wo sich Politik und Kunst treffen könnten, sollte es auf dem Kongress gehen. Ein interessantes und wichtiges Thema eigentlich. (Wenn auch am Rande kolportiert wurde, Slavoj Zizek sei vor nicht allzu langer Zeit von einem Podium aufgestanden und habe gerufen, er habe in den vergangenen Jahren auf Hunderten dieser Panels gesessen, wo es immer um Politik und Kunst gegangen sei, verändert habe das alles überhaupt nichts, außer für ihn selbst, für ihn habe es zu einem sicheren Einkommen und zu ausgedehnter Reisetätigkeit geführt. Nun habe er die Nase voll, werde sich nie wieder auf so ein Podium setzen und stattdessen nach Slowenien zurückgehen und wieder ernsthaft Politik machen. Aber diese Anekdote machte auch erst am letzten Tag des Kongresses die Runde.)

Aber Hand aufs Herz: Sind das nicht genau unsere Fragen? Wie kann man der Negation Kraft verleihen? Welche Formen der Negation haben eine offene Flanke zu dem, was wir nicht wollen, also zum Faschismus? Welche Musik hören wir dazu? Künstlerische und politische Negation, sollte das nicht zusammengehören? Und was hätte Adorno dazu gesagt?

Trotzdem ließ einen der Kongress einigermaßen unbefriedigt zurück. Nicht deshalb, weil man darauf gehofft hatte, diese Fragen nun geklärt zu bekommen. (Alle großen Fragen müssen ständig immer wieder gestellt werden und klären sich sowieso erst dann, wenn sie keiner mehr stellt.) Und auch nicht, weil sie beantwortet wären, sondern weil sie dann aus dem Feld der Politik und Philosophie in das der Geschichte überwechseln.

Der Kongress litt schlicht und einfach unter seiner Einladungspolitik, eine Politik, die den großen Bogen und das globale Szenario des Eröffnungsvortrags in eine kleine Welt übersetzte und beides miteinander verwechselte.

Nun könnte man sagen, dass Diederichsens Texte ihre besondere Qualität oft daraus ziehen, dass sie etwas folgen, dass man das Feldherrnhügel-Modell nennen könnte. Vor dem Blick des Lesenden entfaltet sich eine Landschaft, wo sich irgendwo im Süden ein Grüppchen sammelt, auf den Hügeln im Westen postiert sich ein anderes, in einem Tal im Norden wird über ganz andere Probleme nachgedacht und an ästhetischen Strategien gebastelt, während sich auf der Hochebene im Osten bestimmte Kräfte massieren, die an all dem überhaupt kein Interesse haben und etwas ganz anderes wollen.

Jede dieser Gruppen hat Verbündete, die meisten dieser Gruppen haben wiederum eine Geschichte, oft eine Geschichte, von der man nichts weiß, und die meisten dieser Gruppen wissen nicht, dass es die anderen Gruppen gibt.

Diese Gruppen können nun aus konkreten Leuten aus dem Hier und Jetzt bestehen, Antideutsche etwa oder Globalisierungsgegner oder japanische Noise-Musiker oder sonstwer, der in seinem Universum eine bestimmte politische oder künstlerische Praxis entwickelt.

Für den Feldherrn ist es wichtig, dass diese Gruppen nichts voneinander wissen (denn dies ist nicht zuletzt einer der Gründe, warum sie tun, was sie tun). Der Feldherrnblick versucht nun das unterschiedliche Treiben dieser Gruppen auf einen gemeinsamen Begriff zu bringen, den höchst widersprüchlichen Praktiken eine gemeinsame begriffliche Grundlage zu geben - nicht zuletzt in der Hoffnung natürlich, durch diesen Akt des Aus-dem-Zusammenhang-Reißens und des In-den-Zusammenhang-Schmeißens Einfluss auf den Weltlauf zu nehmen.

Negation ist ein solcher Begriff, mit dem Diedrichsen versucht, die unterschiedlichen Sehnsüchte diverser Leute, die Welt könne auch anders sein, in Verbindung zu setzen. Und was für einen Text gut ist, kann nicht schlecht für einen Kongress sein. Doch Diederichsen ist eben Analytiker und kein Bündnispolitiker. So unsympatisch die Bündnisleute einem auch sein können, sie machen die besseren Kongresse. Nicht zuletzt deshalb, weil sie über konkrete Unterschiede gerne hinwegsehen. »Kraft der Negation« war dagegen so etwas wie eine Einladung an Freunde, auf den Feldherrnhügel zu kommen, um herauszublicken und über Unterschiede zu sprechen.

Für die eingeladenen Künstler galt dies nicht. Das Projekt des Berliner Ensembles Zeitkratzer, die verschiedensten negativen Musiken zu verbinden, indem man all diese Musiken zunächst in Partituren überträgt, um sie dann mit einem Orchester aufzuführen, war zwar ein anstrengendes Vergnügen, aber es machte Sinn. Zeitkratzer spielten so unterschiedliche Musik wie die von Terre Thaemlitz und Throbbing Gristle, Helmut Lachenmann sowie Death Metal.

In einer bestimmten Weise war das zwar überhaupt nicht negativ; das war eher die Musik einer Combo, die es wirklich gut drauf hat, für ein Publikum, das es auch wirklich gut drauf hat; trotzdem funktionierte es. Wenn sie etwa bei der Aufführung eines Teils aus Lou Reeds »Metal Machine Music« - im Original eine amphetamingetriebene Störgeräuschorgie - ein Feedbackbrummen mit einer Tuba nachspielten, dann kam das Adornos Idee der Negation der Negation, die nicht zu einer Position wird, so nah, wie man dieser Idee nur kommen kann.

Genauso überzeugend, wenn auch einer anderen Idee von Negation verpflichtet, war die New Yorker Band Black Dice, eine Gruppe unglaublich putzig anzuschauender Jungs um die 20, die gleichwohl einen Sound spielten, der sich anhörte, als ob Pink Floyd sich gerade als nihilistische Punks reinkarnieren würden.

Auch die Aufführung von Herman Melvilles Erzählung »Bartleby« durch den Schauspieler Ueli Jäggi war mehr als gelungen.

Problematisch wurde es jedoch, wann immer sich ein Podium zusammenfand, um die Fragen des Kongresses zu diskutieren. Dann war es entweder schwer vernerdet, so wie in Köln, als sich verschiedene Musiker, Komponisten und Musikjournalisten versammelten, um über Negation in der Musik zu diskutieren, es eigentlich aber darauf hinauslief, dass man sich gegenseitig seine momentane Negationslieblingsplatte vorspielte.

Oder es kam zu einer Diskussion wie der großen Abschlussdiskussion in Berlin, wo Diederichsen, die Philosophin Rahel Jaeggi, Andreas Fanizadeh, die Spiegel-Auslandsredakteurin Carolin Emcke und Mark Siemons von der FAZ schlicht aneinander vorbeiredeten. Jaeggi wollte eigentlich darüber sprechen, dass Diederichsens Negationskonzept für sie nicht richtig aufgehe, Fanizadeh wollte von Siemons wissen, wie man sich für die Negation und den Widerstand stark machen könne, wenn man bei der Zeitung für Deutschland angestellt sei, Carolin Emcke gab zu Protokoll, sie verstehe unter Globalisierungsgegnern andere Leute als die, die in Diederichsens Vortrag vorkamen, und Siemons schließlich ging es vor allem darum, dass es einen Zeitgeist zu bekämpfen gelte, der die Negation zu einer Geste der Affirmation gemacht habe.

Doch selbst wenn man an diesem Abend nicht aneinander vorbeigeredet hätte: Warum lädt man eine Frau vom Spiegel ein, um sie die Globalisierungsgegner repräsentieren zu lassen, warum einen FAZ-Autor, um ihn die Unverbindlichkeit postmoderner Negationsstrategien geißeln zu lassen? Wären hier nicht Akteure gefragt gewesen, irgendjemand der sich tatsächlich als Anti-Irgendwas begreift und draußen im Feld an seinen politischen oder ästhetischen Strategien bastelt? Hätte man nicht hier eine ähnlich radikale Einladungspolitik betreiben müssen wie im musikalischen Rahmenprogramm?

Gelungener waren da Gesprächsmodelle wie das von der Gruppe »Jeder Mensch ist Experte« verkörperte. Wie um den Küchentisch einer linksradikalen Multimedia-WG saßen drei junge Leute herum und unterhielten sich über Genua, Seattle, die kalifornische Gewerkschaftsbewegung und die berühmte Was-tun-Frage. Hier öffnete sich ein Fenster nach draußen, hier sprachen Leute über ihre Exkursionen in das im Eröffnungsvortrag umrissene Feld.

Auch der Verein für Zukunft und seine Anarchismus-Revue funktionierten besser als die verschiedenen Podiumsdiskussionen. In einem Bühnenbild, das aus umgenähten Deutschlandfahnen bestand, die nur noch das Schwarz zeigten, und aus drei Schreibtischen, die aussahen, wie aus der Konkursmasse eines Politbüros übernommen, wurde die Lebensgeschichte des Wuppertaler Anarchisten Fritz Benner mit Bakunin-Zitaten, Berichten über die anarchistische Bewegung im Griechenland der Siebziger und über die Stadtteilorganisation im Buenes Aires der Gegenwart gegengeschnitten.

Das hatte zwar einen sehr starken Hang zu einer Schüleraufführung, aber wie soll man einem Thema wie der Geschichte des Anarchismus auch anders beikommen? Denn auf der einen Seite ist natürlich keine Negation denkbar, die reiner wäre als die anarchistische. Aber wenn die Theorie des Anarchismus nur die Theorie einer bestimmten Praxis sein kann und man dies als Zitat in die Aufführung einbaut, oder wenn man sich auf die Bühne eines Stadttheaters stellt und ruft: »Die beste Schulstunde ist der Bau einer Barrikade«, so atmet das vor allem den Geist der adoleszenten Rebellion, die sich so sehr in die Idee der Freiheit verliebt hat, dass sie gerne über ihre realen Bedingungen hinwegsieht. Diese Verkennung der eigenen Lage wiederum kann produktiv und befreiend wirken, sie kann aber auch nach hinten losgehen.