Thesen zur aktuellen Veränderung des Migrationsregimes

Vom Unglück der Integration

Integration lautet das Schlagwort, mit dem gegenwärtig in Deutschland politisch und juristisch ein Konsens über die »Steuerung und Beschränkung« der Migration durchgesetzt werden soll: Integration als staatlicher Imperativ. Mit den folgenden Thesen kritisiert Jost Müller das Integrationssystem als Moment im Migrationsregime, das darauf zielt, neue rassistische Grenzen zu ziehen.

Gegenwärtig vollzieht sich ein Wechsel des Migrationsregimes von der sozialen Peripherie des bundesrepublikanischen Staats ins Zentrum der politischen Regulation.

Das System der sechziger Jahre, das Gastarbeitersystem, war an der Peripherie der sozialen Kompromissbildung angesiedelt, indem es - grob gesagt - die Arbeitsmigration als marginales, reversibles Problem der Allokation von Arbeitskräften unter den Bedingungen ihres Mangels konstruierte. Der soziale Kompromiss, der die Bundesrepublik zunächst trug, bestand im nationalstaatlichen Ausschluss der Migranten und Migrantinnen von fundamentalen Bürgerrechten, letztlich in der Verweigerung eines Bleiberechts.

Bezogen auf die Bevölkerungspolitik bestand der Kompromiss zwischen einer national und in Partei und Gewerkschaft bürokratisch formierten Arbeiterklasse und den dominanten, exportorientierten Fraktionen der Kapitalistenklasse darin, den migrantischen Anteil des Gesamtarbeiters als vorübergehend, ephemer und extrem abhängig und manipulierbar zu betrachten. Gegenüber der repräsentierten Arbeiterklasse bildeten Migranten ein Subproletariat, gegenüber dem Kapital eine anscheinend leicht verfügbare Masse.

Alle Versuche andererseits, dieses Gastarbeitersystem in der Krise des Fordismus, in den siebziger und achtziger Jahren politisch umzusetzen und so aufrechtzuerhalten, vom Anwerbestopp bis zu den finanziellen Anreizen zur Rückkehr, scheiterten an der Beharrlichkeit der Migrantinnen und Migranten, an ihren Forderungen nach Repräsentation und auch an ihrem Vermögen zur Bildung von gesellschaftlichen Allianzen und Koalitionen.

Der Migrationsprozess erwies sich als irreversibel.

Ende des Gastarbeitersystems. Der Wechsel des Migrationsregimes besteht darin, neue Demarkationslinien innerhalb der Bevölkerung zu ziehen.

Die erste Demarkationslinie wurde Anfang der neunziger Jahre zwischen Flüchtlingen und Migranten gezogen. Mit der Beseitigung des Rechts auf Asyl ist der Migrationsprozess herrschaftlich aufgespalten worden.

Der ganze politische und juristische Streit um die verschiedenen Kategorien von Flüchtlingen und Migranten hat genau diesen Sinn. Das Ziel ist ein geschichtetes System von Bevölkerungsgruppen, die mit unterschiedlichen staatlichen Maßnahmen belegt werden: etwa Vollintegration von Aussiedlern aus Osteuropa, verbunden mit entsprechenden Bildungsmaßnahmen; Integration durch partielle kommunale Repräsentation - von den Ausländerbeiräten bis zum kommunalen Wahlrecht - sowie durch partielle Anerkennung und damit Festschreibung kultureller Identitäten in der so genannten multikulturellen Gesellschaft; schließlich jenseits der Demarkation ein temporäres Bleiberecht bis zur vollständigen Verweigerung jedes Asyls mit der Konsequenz der gewaltsamen Abschiebung.

Das neue Staatsbürgerrecht reguliert entlang dieser Demarkationslinien die Bevölkerung. In der zunächst vorgesehenen weicheren Variante, der doppelten Staatsbürgerschaft, sollte das Recht die faktische Integration in Form der partiellen Repräsentation und kulturellen Anerkennung zur juridischen Integration erweitern. In der durchgesetzten härteren Variante ist die Demarkationslinie in die migrantische Bevölkerung selbst verlegt, indem das Recht nun generationelle Grenzen zieht und vor allem explizit uneingeschränkte Staatsloyalität als individuelle Willensentscheidung des potenziellen Neubürgers verlangt.

Die durchgesetzte Variante ist das Resultat einer strukturell konservativen Hegemonie und eines spezifischen Kompromisses, der die Ablösung des Gastarbeitersystems als Migrationsregime wie auch die Ablösung des rigoros exekutierten Blutsrechts, des ius sanguinis, bedeutet.

Zuwanderung und Integration. Das zentrale Wort »Integration« liefert die Konsensformel für den Kompromiss, der politisch zwischen ökonomistischen und nationalistischen Tendenzen hergestellt worden ist.

Mit dem Begriff der Integration werden zwei weitere Demarkationslinien in das Migrationsregime eingezogen. Zum einen handelt es sich um die Trennung der migrantischen Bevölkerung vom Prozess der Migration, das heißt um den Versuch, die migrantische Geschichte auszulöschen; zum anderen um den Versuch, die Trennung von innen und außen neu zu definieren.

Möglicherweise signalisiert bereits die Bezeichnung Zuwanderung im Unterschied zu Einwanderung diesen Kompromissansatz. Während Einwanderung eher territorial bestimmt ist, meint Zuwanderung - gerade in der Differenz zu diesem Begriff - die Einfügung in eine bereits integrierte Gesellschaft, zu der man eben hinzugekommen ist oder hinzukommen wird.

Steuerung und Beschränkung als Kernaussagen des Zuwanderungsgesetzes verweisen noch deutlicher auf die Struktur des Kompromisses zwischen Nationalisten und Ökonomisten. Die Green Card war in dieser Hinsicht der gleitende Übergang vom Gastarbeitersystem zum Integrationssystem. Sie war der Türöffner der Transformation, indem sie den Nationalisten den ökonomischen Niedergang der Nation vor Augen führte, falls der Anschluss an die Globalisierung verpasst würde. Andererseits war den neoliberalen Ökonomisten die zeitliche Beschränkung der Verfügung über die Arbeitskraft vorgeschrieben.

Zur Konsensformel der Integration gehört letztlich aber auch der Topos der »nützlichen Arbeit«, der in der Green Card-Diskussion eine zentrale Rolle gespielt hat.

Arbeitskraft und Reproduktion.Der Ausdruck »nützliche Arbeit« ist eine fetischisierende Vokabel, die sowohl die Verwertung der Arbeitskräfte als auch die Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Reproduktion verschleiert.

Der Ausdruck »nützliche Arbeit« ist deshalb ein Euphemismus, weil er den - wie Marx es nannte - Doppelcharakter der Arbeit verdeckt, ihn auf die eine Seite, nämlich die konkrete nützliche Arbeit reduziert. Er verschleiert den kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsprozess, indem er vom gesellschaftlichen Charakter der Arbeit unter dem Kommando des Kapitals absieht, nämlich von der abstrakten, verwertbaren Arbeit. Nützliche Arbeit ist entweder ein Begriff aus dem Arsenal der Vulgärökonomen oder der Nationalisten. Daher kann er als ideologischer Konsensbegriff auch in die Transformation des Migrationsregimes hin zur Integration eingehen: zum einen als Illusion des gerechten Tauschs von Arbeit gegen Lohn, zum anderen als nationale Arbeit.

Das Kapital sucht nicht nach »nützlicher Arbeit« in diesem Sinn, sondern in Verwertung und Wertrealisierung abstrahiert es gerade von der konkreten Arbeit. Oder genauer: In seinem Heißhunger nach Mehrwert sucht es nach der unbezahlten Arbeit als der Quelle des Mehrwerts.

Für das Kapital ist jede Arbeit nützlich, die sich verwerten lässt. Das Kriterium für die Verwertbarkeit gibt aber nicht die konkrete nützliche Arbeit vor, also etwa eine bestimmte Qualifikation, sondern der Wert der Ware Arbeitskraft oder die zu ihrer Reproduktion notwendigen Kosten für Lebensmittel, Bildung usw. im Verhältnis zum Mehrwert.

Bei der Green Card geht es genau darum, die hohen Reproduktionskosten für qualifizierte Arbeitskräfte zu senken, für Arbeitskräfte, die in der Lage sind, komplex zusammengesetzte konkrete Arbeiten zu verrichten. Diese Reproduktionskosten, vor allem die Kosten für die Ausbildung, wurden externalisiert. Das Bildungssystem der Bundesrepublik wurde einer rigiden Austeritätspolitik unterworfen, von der nicht zuletzt die migrantische Arbeitskraft betroffen ist. Es geht in beiden Fällen um eine Entwertung der Ware Arbeitskraft oder um eine Erhöhung des Mehrwerts.

Zu sprechen wäre also nicht weiter von der nützlichen Arbeit und davon, dass jeder Mensch nützlich sei, sondern von der Verwertbarkeit der Arbeitskräfte unter den Bedingungen der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, von der verwertbaren Arbeit und der Entwertung der Ware Arbeitskraft. Hierin besteht der Unterschied zwischen einer pfäffischen moralischen Ökonomie und der Kritik der politischen Ökonomie.

Zu sprechen wäre aber zugleich auch von den Grenzen der Werttheorie. Im Hinblick auf den Migrationsprozess und die Etablierung des Integrationssystems als Migrationsregime findet die werttheoretische Bestimmung ihre Grenze an der Autonomie der Migration gegenüber der Kapitalakkumulation.

Dialektik der Autonomie. Die Autonomie der Migration gehört unmittelbar zum Prozess der Vergesellschaftung, der sich zwischen den beiden Polen staatlicher Regulierung und Konstitution der Menge, zwischen Staat und Multitude abspielt.

Autonomie bedeutet hier, dass der Migrationsprozess weder nach den Gesetzen der Kapitalakkumulation, im Sinn einer den Lohn drückenden Reservearmee, noch nach den Imperativen eines Migrationsregimes abläuft, weder vom Kapital noch von staatlichen Maßnahmen gesteuert wird. Autonomie der Migration heißt aber andererseits nicht, dass der Prozess völlig frei von politischen und ökonomischen Regularien oder auch ideologischen Mustern der Vergesellschaftung ist.

Die Geschichte der Migrationen weist zahllose ökonomische, politische und ideologische Motive auf, die die Migration in Gang setzen können. Immer aber vollzieht sie sich nach dem Modus des Entziehens; sie ist weder freies Fluten noch kanalisierter Strom. Sie beruht auf dem Kalkül, ein besseres Leben führen zu können, wenn es gelingt, sich den jeweils herrschenden Mächten, seien sie ökonomisch, politisch oder ideologisch bestimmt, zu entziehen. Ein Kalkül, das alle Momente der Verzweiflung und der Hoffnung, der übersteigerten Illusion und der berechtigten Erwartung absorbieren kann.

Ein Kalkül allerdings auch, das die Dialektik dieser Autonomie zeigt. Sie setzt im Modus des Entziehens die Migranten und Migrantinnen frei von den bestehenden Formen der Vergesellschaftung und installiert zugleich selbst neue Formen der Vergesellschaftung. Das sind möglicherweise verregelte Communities, bestimmte Haushaltsstrukturen, unterschiedliche ökonomische Produktionsweisen und entsprechende Regularien von den Agenturen der Subsistenzproduktion bis zum kapitalistischen Betrieb. Es sind aber auch politische Organisationen und kulturell fixierte Muster der Identifikation.

Das alles geschieht in Institutionen, deren doppelte Funktion darin besteht, die Selbstverteidigung gegen Diskriminierung, Depravierung und Rassismus zu organisieren, zugleich aber die Garantie für ein vermeintlich besseres Leben zu übernehmen. Institutionen folglich, die die Autonomie behaupten, um sie letztlich zu zerstören.

Genau an diesem Punkt setzt das Integrationssystem als neues Migrationsregime an. Es schwächt die Momente der Multitude, die Momente der Selbstverteidigung und der autonomen Konstitution; es stärkt die Momente der autonomen Institutionalisierung, um sie zu usurpieren und zu rekuperieren; es betreibt die Verwandlung von potenziellen Arbeitskräften in verwertbare; es verspricht Bildung und Lohn; es garantiert in gewissen Maßen und in rechtlichen Formen die alltägliche Reproduktion, bis das Begehren nach einem besseren Leben abgestumpft ist und sich verwandelt in die Bejahung des Bestehenden.

Ohne Zweifel ein Unglück für all jene, die es - aus welchen Motiven und Gründen auch immer - gerade in dieses Land verschlagen hat; denn hier war der Antagonismus von Staat und Multitude niemals besonders ausgeprägt, ja, er ist zeitweise völlig zum Verschwinden gebracht worden.

Beitrag zum Workshop »Empire und Autonomie der Migration« während des kanak attak-Kongresses 2002 (Berlin u. Frankfurt).