Krawalle nach der russischen WM-Niederlage gegen Japan

Russenrandale

Der Abschied Russlands von der Fußball-WM ging mit Ausschreitungen einher. Lag es am Wodka oder an der Politik?

Der allerletzte Abschied der russischen Fußballer war leise, unspektakulär und beinahe Mitleid heischend. Trainer Oleg Romanzew trat nach der 2:3-Niederlage gegen Belgien am vergangenen Freitag zurück, die Spieler flogen nach Moskau und von dort in ihren Urlaub.

Während dieses allerletzten Abschieds gab es keine Randale der Fans, wie noch am Sonntag der Woche zuvor, nach der 0:1-Niederlage gegen Japan. Da war es in der Moskauer Innenstadt, wo auf dem Manegeplatz 8 000 Fans das Spiel auf einem Großbildschirm verfolgten, zu Ausschreitungen gekommen. Ein 20jähriger Mann starb, 49 Menschen wurden in Krankenhäuser eingeliefert.

In einer U-Bahn-Station wurden auch ein Amerikaner indischer Abstammung und ein Chinese krankenhausreif geschlagen. 80 geparkte Autos wurden zerstört, 227 Fensterscheiben von Geschäften zertrümmert, 113 Menschen verhaftet, gegen 15 wird vermutlich Anzeige erstattet.

Augenzeugen berichteten, dass in der Menge viele besoffene Fans gewesen seien, die während des gesamten Spiels mit leeren Wodka- und Bierflaschen um sich geworfen hätten. Die Ausschreitungen begannen unmittelbar nach dem japanischen Siegtor. »Die Bullen haben nichts gemacht«, sagte Alexei Panin, ein Moskauer Jugendlicher, der sich das Spiel auch angeschaut hatte, den Journalisten.

Für das abschließende WM-Spiel gegen Belgien am vergangenen Freitag bot der Staat dann 2 000 Polizisten und Elitesoldaten auf. Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow erklärte beinahe verzweifelt, dass doch »die Übertragung von Fußballspielen eines der Zeichen von zivilisierten Gesellschaften ist«. Und diesmal passierte in der Tat nichts mehr. Die Spieler bäumten sich auf und verloren. Die Fans ärgerten sich und gingen nach Hause.

Es blieb lediglich die Frage, wie es am Sonntag, den 9. Juni, zu diesen Ausschreitungen kommen konnte, die in der Presse mal als »Riots«, mal als »Pogrome« und mal als »Hooliganismus« bezeichnet werden. Die offerierten Erklärungen gehen allesamt nicht sehr tief. Einige sehen einen tief sitzenden Anti-Japanismus als Ursache, der durch jüngste Einlassungen rechtsextremer Politiker noch geschürt worden sei. Andere verweisen darauf, dass in der Halbzeitpause des Spiels im Fernsehen ein Werbespot gezeigt worden sei, in dem ein irischer Teenager ein Auto mit einem Baseballschläger zertrümmerte. Er habe die Wut der enttäuschten Fußballanhänger in Gewalt verwandelt.

Von der Polizei ist zu hören, dass der Wodkaverkauf zu extensiv gewesen sei und dass der Alkohol die Fans enthemmt habe. Und Vertreter der Kommunistischen Partei, wie ihr Generalsekretär Gennadi Sjuganow, sprechen von einer »gezielten Provokation«. Schließlich habe zu der Zeit, als das Spiel lief, die Duma über ein Gesetz beraten, dass jede »extremistische Betätigung« kriminalisieren solle. Auch der russische Premierminister Michail Kasjanow und Sergei Fochenkow von den Nationalbolschewisten sprechen von einer »organisierten Aktion«, auch wenn ihnen dafür freilich die Belege fehlen.

In einer vom russischen Fernsehsender TVS spontan durchgeführten telefonischen Meinungsumfrage erklärte von 2 242 Anrufern etwa die Hälfte, »die Politiker«, die solche öffentlichen Aufführungen veranstalteten, seien schuld. Nur 384 Anrufer sahen die Fans als Urheber.

Die Verwirrung in Russland über das, was da an einem Vormittag plötzlich niederging und genau so schnell wieder verflog, ist groß. Boris Kagarlitzky, ein linker russischer Soziologe, hält von den offerierten Deutungen nichts. »Dass die russische Mannschaft verloren hat, erklärt kaum etwas. Der Ausbruch wäre kaum anders gewesen, wenn Russland durch ein kleines Wunder gewonnen hätte«, meint er, und auch die Erklärung, rechte Skins hätten alles angezettelt, ist ihm zu dürftig. »Ohne Zweifel waren auch Rechtsextremisten anwesend, aber wenn sie nicht dagewesen wären, hätte das am Resultat nichts geändert.«

Kagarlitzky hält die Erschütterung Russlands durch die katastrophalen Effekte der ökonomischen Reformen der Administration unter Wladimir Putin für ursächlich. Dass sich der Protest im Zusammenhang mit dem Fußball entlädt, wundert ihn nicht. »Politiker und Massenmedien haben den Sport zur Quelle des nationalen Stolzes erklärt.« Deshalb brauche man sich nicht zu wundern, dass die Verletzung des Stolzes auch gerade da einsetzt.

In der Tat hatte Russlands Staatspräsident Putin noch im Februar dieses Jahres den Sport in den Mittelpunkt seiner Politik gestellt. Die russische Ökonomie sei so marode, weil »sich jedes Jahr Millionen Russen als Invaliden melden«, hatte er erklärt. »Unsere Lebenserwartung ist unverzeihlich gering.« Neun von zehn Wehrpflichtigen seien untauglich, 70 Prozent der männlichen Russen rauchten.»Heute sind nur noch Märkte, wo früher Stadien waren.« Auch dass die besten russischen Sportler im Ausland trainierten, zeige, wie es um Russland stehe.

So war ein gutes Abschneiden der russischen Nationalmannschaft von Beginn an zu einem Politikum geworden. Erreicht das Team von Oleg Romanzew die Finalrunde, war die Wirtschaftspolitik erfolgreich. Scheidet das Team aus, ist sie gescheitert.

So falsch wie sie auf den ersten Blick erscheint, ist diese Analyse freilich nicht. Der russische Fußball ist nämlich fest in der Hand der Mafia und somit sehr wohl ein schöner Ausdruck der gegenwärtigen russischen Machtstrukturen. Und die Nationalmannschaft, die in vergangenen Turnieren durch viele Legionäre verstärkt wurde, bestand während der WM in Japan und Südkorea vor allem aus Kickern des stärksten russischen Klubs, Spartak Moskau, wo Oleg Romanzew nicht nur Trainer, sondern zugleich auch Präsident ist.

Spartak Moskau gilt als Musterbeispiel eines unabhängigen und deswegen erfolgreichen Vereins. Anders als die Lokalrivalen Lokomotive, Torpedo oder Dynamo, die vom Eisenbahnministerium, der Autofabrik SIL bzw. vom Innenminsterium finanziert werden, verweist Spartak darauf, dass bei ihm kein wichtiger Politiker als Patron gilt.

Diese Unabhängigkeit hat Spartak freilich leichter zugänglich für solche Geschäftsleute gemacht, die Geld spendieren können und aus Gründen der Geldwäsche spendieren müssen. Obendrein hat Spartak, in den letzten zehn Jahren neun Mal russischer Meister, mehr noch als die anderen Klubs in der russischen ersten Liga, ein Hooliganproblem.

Ob es allerdings zur Erklärung der Ausschreitungen in der vergangen Woche taugt, ist weiterhin fraglich. Boris Kagarlitzky versteigt sich gar zu einer merkwürdig optimistischen Einschätzung. Es sei das erste Mal seit den frühen neunziger Jahren gewesen, dass es in Russland spontanen Protest nicht unter der roten, sondern unter der russischen Flagge gegeben habe. So ähnlich sei es auch 1914 gewesen, als es unter dieser Fahne zu Ausschreitungen gegen Geschäfte und Restaurants kam. »Drei Jahre später war die dreifarbige Flagge aus der Mode gekommen. Sie wurde ersetzt durch die roten Fahnen der Bolschewisten.«

In drei Jahren gibt es aber gar kein großes internationales Fußballturnier. Ein Jahr später jedoch, 2006, findet die WM in Deutschland statt.