Über La Conscience mystifiée

Zeiten riesiger Mystifikationen

Im Jahr 1936, als das Buch La Conscience mystifiée von Norbert Guterman und Henri Lefebvre im Pariser Verlag Gallimard veröffentlicht wurde, keimten für die Linke in Europa noch einmal politische Hoffnungen auf. In Frankreich und Spanien wurden Volksfrontregierungen gebildet, in Schweden proklamierten die Sozialdemokraten den Wohlfahrtsstaat, in Norwegen und Dänemark waren sie in den Regierungen bestimmend. Zumindest kurzfristig konnte es scheinen, als sei der Durchmarsch faschistischer Bewegungen an die Regierungsmacht und die Etablierung weiterer rechter Diktaturen aufgehalten worden. Diese Hoffnung der Linken kann verstehen, wer sich das Europa von Ende 1934 vergegenwärtigt: der Faschismus in Italien seit etwa zehn Jahren an der Macht, das Nazi-Regime konsolidiert, der Austrofaschismus etabliert, autoritär-staatliche Diktaturen in Ungarn, Polen, Portugal, Albanien und Litauen, rechte Staatsstreiche in Bulgarien, Estland und Lettland. Hinzu kam das Anwachsen faschistischer Bewegungen in verschiedenen europäischen Staaten, insbesondere der Eisernen Garde in Rumänien, der kroatischen Ustascha in Jugoslawien und der Vaterländischen Volksbewegung in Finnland. Und so ging es dann auch die folgenden Jahren weiter.

In Frankreich selbst versuchten im Februar 1934 national-bonapartistische Ligen, vor allem die Croix de Feu und die Jeunesses Patriotes, mit einem Sturm auf das Parlamentsgebäude einen Staatsstreich zu provozieren. Das Vorhaben misslang, aber in der Folge trat die Regierung Edouard Daladiers zurück. Die politische Krise der Dritten Republik war manifest. In den zwei Jahren bis zum Wahlsieg der Linken im Mai 1936 lösten sich vier Regierungen ab, die ein Programm der »nationalen Einigung« verfolgten. Die Entwicklung in Deutschland von 1930 bis 1933 vor Augen, konnte die Volksfrontregierung unter dem Sozialisten Leon Blum wie die Rettung vor einer faschistischen Diktatur erscheinen.

Immerhin verband die neue Regierung ein wirtschaftspolitisches Programm zur Nationalisierung der Bank von Frankreich und der Rüstungsbetriebe sowie einen sozialpolitischen Reformkurs mit der staatlichen Auflösung der Ligen, die als faschistische Gefahr wahrgenommen wurden. So wenig allerdings die mit den Methoden des deficit spending durchgeführte Wirtschafts- und Sozialpolitik, wie in anderen Staaten auch, einen Weg aus der Wirtschaftskrise bahnte, so wenig war mit der Auflösung der Ligen die politische Krise behoben. Sie tauchten in Tarnorganisationen ab, und mit der Gründung des Parti Populaire Français unter der Führung des Exkommunisten Jacques Doriot entstand im Juni 1936 sogar eine neue faschistische Sammlungsbewegung, die 1940 nach der Besetzung Frankreichs eine zentrale Organisation der Nazi-Kollaboration wurde.

Die anfänglichen Hoffnungen der Linken waren schnell an der weiteren Ausbreitung von Faschismus und politischem Autoritarismus zerschellt, ihre Organisationen schon 1938 weitgehend paralysiert oder zerstört. Nicht zuletzt die ideologische Krise bürgerlicher Herrschaft, wie Guterman und Lefebvre sie in ihrem zwischen 1933 und 1935 geschriebenen Buch analysieren, war durch die Maßnahmen der Volksfrontregierungen wie auch durch die der sozialdemokratischen Regierungen in Skandinavien nicht zu überwinden. »Die mystifizierende Erfahrung ist international«, heißt es ahnungsvoll an einer Stelle in La Conscience mystifiée. Die Gründe für die ideologische Krise gehen nach dieser Auffassung, darin vergleichbar den Analysen in der Zeitschrift für Sozialforschung zu Beginn der dreißiger Jahre, in die Konstitutionsphase der bürgerlichen Gesellschaft zurück. Der Faschismus in seinen verschiedenen nationalen Formen und, so ist aus heutiger Sicht hinzuzufügen, in seinen unterschiedlichen Graden der Terrorisierung und Brutalisierung der Gesellschaft konnte sich das mystifizierte Bewusstsein zunutze machen, es manipulativ, zynisch und aggressiv steigern. Es reicht nach Guterman und Lefebvre vom Kapitalfetisch über den Staatsmythos bis zu den literarischen und philosophischen Debatten der Intellektuellen.

Das Buch unternimmt deshalb zweierlei, zum einen die Analyse zeitgenössischer ideologischer Strömungen und mystifizierter Realitäten, zum anderen den Entwurf einer Theorie der Mystifikation, die an die Verwendung des Begriffs in Marxens früher Hegel-Kritik, in der Deutschen Ideologie und im Kapital sowie an dessen Entfremdungsbegriff in den Pariser Manuskripten von 1844 anknüpft. Es ordnet sich damit in die Bestrebungen des so genannten Westlichen Marxismus ein, mittels der an Hegel und Marx geschulten dialektischen Methode eine kritische Gesellschaftstheorie zu entwerfen. Wie für Georg Lukács der Begriff der Verdinglichung oder etwa für Theodor W. Adorno der Begriff des Verblendungszusammenhangs, so ist für Guterman und Lefebvre der der Mystifikation zentral, um die sozialstrukturellen Gegebenheiten kapitalistischer Vergesellschaftung mit den herrschenden Formen von Bewusstsein zu verbinden, bei letzteren zumal im Sinn einer offenen Totalität.

La Conscience mystifiée war als erster einer auf fünf Bände angelegten Serie angekündigt, deren weitere sich mit dem »privaten Bewusstsein«, mit der »Kritik des Alltagslebens«, mit der »Wissenschaft der Ideologien« und mit »Materialismus und Kultur« beschäftigen sollten. Der Plan wurde nie realisiert. Guterman musste Ende der dreißiger Jahre aus Frankreich in die USA fliehen und beteiligte sich dort am Antisemitismus-Forschungsprojekt der Frankfurter Schule. 1949 veröffentlichte er gemeinsam mit Leo Löwenthal Prophets of Deceit. A Study of the Techniques of the American Agitators, den vierten Band der Studies in Prejustice. Lefebvre dagegen setzte in gewisser Hinsicht das Programm von 1936 fort und publizierte 1947 den ersten Band von Critique de la vie quotidienne.