Berlinale

Überall Dritte Welt

Für die diesjährige Berlinale galt: Mit der Schlechtigkeit der Verhältnisse ist viel Film zu machen.

Das Kunstkino hat für sich schon immer das gut subventionierte Privileg in Anspruch genommen, mit langen ruhigen Enstellungen und minimaler Handlung dem Publikum eine eigene Erzählstruktur und Filmsprache zu offerieren. Den Daseinszweck dieser in der ganzen Welt immer noch geförderten Produktion von Filmware für den Festivalzirkus möchte man gar nicht in Frage stellen, auch den immer wieder gern apostrophierten Kulturkampf gegen den visuellen Overkill der Bildermaschine Hollywood kann man lächelnd als Rhetorik vernachlässigen, man weiß ja, wie europäische Co-Produktionen schon seit Jahrzehnten vergebens mit dem berüchtigten Europudding den Weltmarktvorgaben Kaliforniens nacheifern.

Das Problem ist eher, dass die in diesem Jahr auf der Berlinale vorgeführten Endprodukte der Filmfestivalindustrie, die gerne mit Attributen wie »wohltuende Unaufgeregtheit« und »sich Zeit lassen beim Erzählen« angepriesen wurden, meistens bestenfalls wohlgepflegte Langweile beim Betrachter erzeugten und schnell zum mehr als bildhaften pain in the ass des tief im Kinosessel kauernden Filmrezensenten wurden. So war denn auch der meistgehörte Kommentar: »Der Film war ganz gut, aber er hatte Längen!« Und diese viel beklagten Längen waren in diesem Jahr besonders lang.

Verzweifeln mochte man aber schon bei dem Motto des Filmfestivals, das mit unterschwelligem Kommandoton »Accept diversity« einforderte - was für ein internationales Filmfestival eigentlich eine geradezu banale Selbstverständlichkeit sein sollte -, und das dann doch nur den dümmlichen Slogans der Love Parade nachzueifern schien. Aber wer weiß, vielleicht war die Parole ja auch nichts weiter als die Begründung, warum vier deutsche Filme im Wettbewerb liefen, und ein Appell, diese Filme als Ausdruck der Vielfalt zu akzeptieren. Bessere Gründe für die Filme gab es schließlich nicht.

So viel zu den äußeren Bedingungen, bevor wir uns nun dem eigentlichen Spektakel zuwenden, das man unter die Überschrift stellen könnte: Die Dritte Welt ist überall oder Mit der Schlechtigkeit der Verhältnisse ist immer noch viel Film zu machen. Überall auf der Welt herrscht Elend, kein Wunder also, dass es auch in etlichen Filmen der diesjährigen Berlinale die Hauptrolle spielte. Politische Visionen oder Utopievorschläge waren dabei selten zu sehen, vorwiegend wurden Zustandsbeschreibungen als Dokumentation des Unabänderlichen gezeigt. Oder Filme über Menschen, denen es schlecht geht und die deswegen anderen Menschen Schlechtes antun, damit es ihnen besser geht. Aus Russland kommt seit Anfang der Neunziger außer opulenten Historienschinken und Russenmafiathrillern allerdings kaum noch Niederschmetterndes, so war es anderen Ländern vorbehalten, die Zuspitzung der sozialen Widersprüche zu dokumentieren.

Aber die Krise hat ja längst die Industriestaaten erreicht, was sich in den japanischen Filmen zeigte, die immer wieder jugendliche Gewalt und gesellschaftliche Auflösungstendezen thematisierten. In Shunji Iwais »All about Lily Chou-Chou«, der im Panorama der Berlinale lief, wurde vorgeführt, wie jugendliche Außenseiter, die keinen Anschluss zu informellen Schutzgemeinschaften wie Gangs oder Cliquen finden, der gnadenlosen Verfolgung und Ausbeutung ihrer Mitschüler ausgesetzt sind. Den verstörten Jugendlichen bleibt nur der vorübergehende Rückzug ins Virtuelle, in diesem Fall in einen Chatroom, wo fieberhaft über den Popstar Lily Chou-Chou diskutiert wird. Diese Flucht aus der Realität bietet aber nur wenig Trost und so endet das Ganze wie so oft mit Gewalt.

Über die Modernisierungsverlierer der französischen Metropolen, hauptsächlich die Einwandererkinder, gibt es in Frankreich schon so viele Filme, dass sich daraus fast schon ein eigenes Genre gebildet hat, der Film B¦ur. »Wesh wesh - qu'est-ce qui se passe?« (Wesh wesh - was geht ab?) stach durch seine radikale Authentizität hervor. Der marokkanisch-französische Regisseur Rabah Ameur-Zaïmeche bemüht sich gar nicht mehr, einen wie auch immer gearteten objektiven Standpunkt vorzugaukeln. Die Ausweglosigkeit der Lebenssituation jugendlicher Vorstadtbewohner zeichnet für ihn den Weg in die Kriminalität vor. Der Film erzählte konsequent aus der Perspektive der Banlieue-Bewohner, die Polizisten sind der Feind, korrupt und rassistisch, manchmal werden ihre Gesichter wie in Fernsehreportagen elektronisch verfremdet.

Nach über einer Dekade postsozialistischem Niedergang scheint im Osten Europas die Groteske die angemessene Form der Zustandsbeschreibung zu sein. Sowohl der jugoslawische Film »Boomerang« wie »Ein Rattendasein« aus Bulgarien bedienen sich des schwarzen Humors, um die alltägliche Misere darzustellen. In der Belgrader Wirtschaft »Boomerang« etwa wird gestritten, geschossen und gesoffen, und die wilde Party eskaliert zusehends, bis die ganze Kneipe brennt und auseinander bricht wie der Staat Jugoslawien.

Eher lakonisch dagegen wird vom deprimierenden Alltag der Bewohner einer Schwarzmeerküstenstadt in Bulgarien erzählt. Sie sollen durch die Errichtung einer Feriensiedlung von ausländischen Investoren vertrieben werden. Auch hier endet das Ganze in einer Katastrophe. Es gibt kein Happy End, stattdessen Tod und Gewalt und Verzweiflung.

Beim brasilianischen Thriller »O Invasor« (Der Eindringling) benutzt Regisseur Beto Brant den Soundtrack aus HipHop und Trash Metal mit kruden antikapitalistischen Texten als kommentierenden Subtext des Films. Die Bauunternehmer Giba und Ivan aus São Paulo wollen ihren dritten Partner loswerden und engagieren dafür einen Auftragskiller. Der Mord wird ausgeführt, aber der Auftragskiller dringt bald in die abgeschirmte Welt der Privilegierten ein und sorgt dadurch für Unruhe und Paranoia bei den beiden Mitwissern. Es beginnt ein Kampf aller gegen alle, die Asozialität des sozialdarwinistischen Überlebenskampfes ist plötzlich allgegenwärtig und macht nicht mehr vor den Reichen halt.