Französischer Mädchenpop

Wie niedlich!

Französische Popmusik hat eigene Erfolgsgesetze. Das Geheimnis des Mädchenschlagers.

Ein französisches Bonmot verrät, dass es für einen Mann nicht amoralisch sei, eine Liebesbeziehung zu einer 19jährigen zu haben, vorausgesetzt sie ist hübsch. Wie steht es um die Obsession der Franzosen? Wie wir alle wissen, hat jeder Franzose mindestens eine Geliebte, zusätzlich hört er gerne Frauen singen. Meistens nicht dabei, stets jedoch danach. Musik ist also wichtig im französischen (Liebes-)Leben.

Von Deutschland aus ist es schwer, die Entwicklungen der französischen Musik und also auch der Obsessionen nachzuverfolgen: Nur wenige französische Sänger haben den Weg in einen deutschen CD-Plexiglas-Turm gefunden: Mireille Mathieu, Charles Aznavour, Jacques Brel (für Oberstudienräte) - klassische Impresarios. Heute Patricia Kaas, Jean-Michelle Jarre und MC Solaar (den noch nicht einmal Franzosen verstehen).

Die französische Popmusik folgt einem eigenen Stil: Sie ist irgendwie »melodramatisch«, wie der vertonte Blick von Jean Gabin. Und irgendwie geht es immer um Sex - wie jeder seit Serge Gainsbourg und Jane Birkin weiß. Und über Sex kann man ja heute ganz offen reden. Heute mehr, als je zuvor.

Musik, die stets einem Präsentationsmuster folgt

Und so bleibt ein Phänomen, welches die Liebe zur Musik und zu attraktiven Frauen in typischer Weise verbindet, außerhalb von Frankreich nahezu unbeachtet: der disharmonische Mädchenschlager.

Dieses Genre wäre nicht Teil des allseits beschworenen »kulturellen Erbes«, würde es sich nicht seit nunmehr 30 Jahren kontinuierlich fortschreiben. Ein klar umrissenes Gestalt-Rezept, ein definiertes Aussehen seiner Präsentatorinnen und ein charakteristischer Musik- und Gesangsstil sind erkennbar. Immer wieder dem Zeitgeist angepasst, folgt es doch gesetzten Mustern:

Kreischen - nicht singen

Die Sängerinnen bedienen sich eines charakteristischen Gesangsstils: Die Stimmlage ist sehr hoch, fast kreischend. Archetyp ist das epochale Duett zwischen Jane Birkin und Serge Gainsbourg im Jahre 1969. Die Stimme von Jane Birkin wirkt zerbrechlich, fein. Niedlich eben.

Nicht den Ton treffen

Das Duett offenbart ein weiteres Merkmal des französischen Mädchenschlagers: Die zerbrechliche, zu hohe Stimme der Sängerin trifft nur selten die Begleitmusik - sie ist gewollt exakt disharmonisch, schlimmer noch als beim Sommerfest einer Musikschule aus dem Sauerland. Und das macht die Sängerinnen so abgöttisch beschützens-und begehrenswert.

Gepunktete Sommerkleider tragen

So wie zahlreiche ambitionierte französische Filme ab 1980 in einem Banlieu vor 17stöckigen Hochhäusern beginnen und in der Schlusseinstellung einen wolkenverhangenen Himmel und das Meer zeigen, hat der französische Mädchenschlager seine eigenen Schlüsselbilder: Gepunktete Sommerkleider oder weiße, schwingende Leinenröcke - im Hintergrund die schroffen Felsen der Bretagne. Ein dreiminütiger David Hamilton-Film offenbart sich dem Betrachter und bedient alle Klischees einer Urlaubsliebelei.

Das zerzauste Haar wird von aufgesprungenen Lippen unterstützt

Französinnen sind ja so natürlich. Durch welche Attribute wird das am eindringlichsten erkennbar? Zerzauste Haar und spröde gewordene Lippen wie am Ende einer verzehrenden Liebesnacht. Musikproduzenten achten penibel darauf, dass ihre Schützlinge genau diesen Vorstellungen entsprechen.

Vanessa Paradis und zunächst Patricia Kaas haben diesen Stil aufgegriffen und verfeinert. Beide haben ihre ersten Songs 1986 veröffentlicht. Die Marketingschule weiß, dass sich zwei Produkte mit ähnlicher Positionierung schnell kannibalisieren. Effekt: Patricia Kaas entwickelte sich zum Vamp. Vanessa Paradis pflegte ihr Image des kleinen Mädchens länger. Denn eine (niedliche) Zahnlücke machte das Bild glaubwürdiger. Als Vanessa Paradis Mutter wurde, war dieses Bild nicht mehr tragbar. Mithilfe des Megacool-Gottes Lenny Kravitz avancierte sie zu einer hippen Sängerin.

Der Platz war frei. Keine mehr, die einfach nur niedlich war. Aber weil es sich bei dieser Form des Schlagers um ein kulturelles Muster handelt, trat Alizée auf die Bühne. Nach Anwendung der erwähnten Stilmittel verkaufte die brünette Schönheit 1,6 Millionen Singles allein in Frankreich. Titel ihres Debüt-Songes: »Moi, Lolita«. Passend zum Aussehen wurde ihr Album »Gourmandises« (Leckereien) benannt. Die Botschaft ist claire und damit es auch jeder versteht, singt sie: »Mais les baisers d'Alizée, sont de vraies gourmandises« (Doch die Küsse von Alizée sind die wahren Leckereien).

Ihre Video-Clips thematisieren das blendende Aussehen, vorzugsweise fließende Stoffe und etwas zerzaustes Haar. So ist es nur konsequent, dass sie der geneigte Käufer auf dem Album-Cover mit Hot Pants im Gras wiederentdeckt.

Kollektive Vorstellungen ebnen den Weg zum Erfolg

Die Grande Nation im Mädchen-Taumel: Da schmachtet eine 16jährige doppeldeutig-eindeutig in die Kamera und kein Aufschrei des Entsetzens umflattert die veröffentlichte Meinung. Das mag den ausländischen Beobachter erstaunen. Wer Vanessa Paradis oder Alizée als Produkte eingängig wirkender Marketingpläne versteht, greift zu kurz: Stattdessen bedienen sie bereits vorhandene kollektive Vorstellungen. Die französische Mind-map kennt das Bild des niedlichen Mädchens seit Jahrhunderten.

Die Betonung der Jugendlichkeit hat in Frankreich einen besonderen Platz. Über Jahrhunderte findet man sie in verschiedenen Medien (Malerei, Bildhauerei, Musik). Illustrationen zeigen die Nationalheldin Jeanne d'Arc als jugendliches, hübsches Mädchen: In Beschreibungen, auf Bildern, ja auch im vor einigen Jahren produzierten Film-Epos. Auch Marianne, das Symbol der französischen Republik, ist - beschaut man zeitgenössische Darstellungen - ein junges, hübsches Mädchen. Zur Zeit steht gerade Laetitia Casta Modell für eine Neuauflage der roten Briefmarke, die das Anlitz der Marianne in die ganze Welt transportiert.

Die Ewige Jugend ist ein bedeutendes Motiv der europäischen Kunstgeschichte, das gilt für Frankreich besonders - sie ist der Beleg für die Perfektion der Natur. Vor diesem Hintergrund wird der Erfolg dieser besonderen Facette der französischen Musik erklärbar: Seine Protagonistinnen folgen geschichtlich tradierten Mustern. Der disharmonische Mädchenschlager entfaltet seine Kraft durch den Mythos.