Zum 400. Geburtstag von Baltasar Gracián

Barock für Manager

Baltasar Gracián und die Kunst, Erfolg zu haben.

Aus Anlass des 400. Geburtstags des spanischen Jesuiten Baltasar Gracián (1601-1658) werden im Oktober in mehreren europäischen Städten Konferenzen abgehalten. Obwohl sein Denken uns auf den ersten Blick fremd scheinen mag, ist es hochaktuell. Mit seiner politisch-moralischen Anthropologie ist er einer der ersten Vertreter des die Moderne auszeichnenden politischen und sozialen Pragmatismus. Das Prinzip »Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf«, das er gleichzeitig mit Thomas Hobbes erarbeitete, entstand in dem Zeitalter, in dem sich die ersten Formen der kapitalistischen Gesellschaft entwickelten, die auf den Grundsätzen des individuellen Erfolgs, der Konkurrenz und des Kriegs aller gegen alle beruht.

Hobbes' Werk spiegelt die neuen Werte der sich damals in England entwickelnden kapitalistischen und bürgerlichen Gesellschaft wider, so wie Graciáns die politische, ökonomische und militärische Krise des barocken Spaniens. Beide fassen die Welt als von Egoisten bevölkert auf, die nur an ihren Eigennutz denken und deshalb immer um Reichtum, Macht und Ehre konkurrieren. Entsprechend dem mechanistischen Weltbild, das der Ausdruck einer neuen Art von nicht mehr kontemplativem, sondern aktivem Wissen ist, schlägt der englische Philosoph, der nicht an die Möglichkeit eines zwischenmenschlichen Vertrags glaubt, als Lösung für diesen Kriegszustand die Schaffung eines »künstlichen Menschen« vor, nämlich des Leviathanstaats. Diese große Maschine sei die einige Möglichkeit, den Untertanen Sicherheit zu verschaffen.

Wie Hobbes konstruiert auch Gracián einen »künstlichen Menschen«, aber dieser ist nicht der Staat, sondern der Mensch selbst. Gracián glaubt nur an das Individuum und entwirft den vollkommenen Universalmenschen, die »Person«, die sich selbst, ihr Überleben und ihren Erfolg in einer als feindlich betrachteten Welt zum einzigen Zweck hat. Er verkörpert die »abstrakte Individualität«, welche die Folge der Auflösung der vorkapitalistischen Lebensformen, also der Ständegesellschaft, ist, wo jedem von vorneherein sein Platz in der Welt zugewiesen war. Da seine einzige anfängliche Bestimmung die negative ist, ein »Naturwesen« zu sein, hat Graciáns Mensch die Möglichkeit, sich selbst in etwas zu verwandeln: in ein Monstrum oder in eine Person. Der moderne Mythos des sich selbst schaffenden Individuums findet also in Gracián einen seiner Vorläufer.

Graciáns Werk zeigt den Identitätsverlust der Person auf, so wie er auch vom Zweifel Hamlets, der Verrücktheit Don Quichottes und der Täuschung Sigismunds ausgedrückt wird. Aber der Pessimismus Graciáns angesichts seiner Welt führt bei ihm nicht zum Verzicht auf die Welt oder zum Rückzug des Individuums auf sich selbst. Die für die damalige Zeit typische Ent-Täuschung (»Desengaño«) wird bei Gracián zu einer Energiequelle, zu einem Motiv, um gegen die »böse Welt« (»Mundo immundo«) zu kämpfen.

In seinem ersten Traktat, »Der Held«, erklärt er dem Leser: »Du wirst hier weder eine politische noch eine ökonomische Räson, sondern eine Staatsräson deiner selbst finden, einen Kompass, um zur Vortrefflichkeit zu segeln, eine Kunst, dank weniger Klugheitsregeln hervorragend zu werden«. Er macht aus der »Staatsräson« ein Mittel für das Individuum, das im gesellschaftlichen Leben Erfolg haben will, und betrachtet jeden Menschen als einen »Staat« gegenüber dem anderen.

Seine Ratschläge richten sich klassenübergreifend an alle, die Erfolg haben wollen. Er verschafft so seinen Lesern von damals und heute eine Kraft, die in Wirklichkeit illusorisch ist, denn klein ist die Zahl der Helden oder großen Leute, die in der Lage sind, die Lebensstrategien zu begreifen. Denn man muss bereits besondere Qualitäten haben, also bereits »überlegen« sein, um diese Regeln zu verstehen, die in Wirklichkeit keine sind.

Gracián sieht von der alltäglichen Wirklichkeit und den materiellen Umständen ab, und wer darauf bezogene Regeln sucht, wird sie in seinen Schriften nicht finden. Er gibt bloß abstrakte und allgemeine Prinzipien, und nur die wenigen Menschen, welche »Discreción«, also Unterscheidungs- und Urteilsfähigkeit besitzen, vermögen es, daraus besondere Regeln abzuleiten, die für besondere Umstände gelten.

Sein »kluger Weltmann«, ein Schauspieler, der alle Rollen je nach Gelegenheit zu spielen versteht, ist der perfekte Mensch, der allein leben kann und sich selbst genügt. Trotzdem hat Graciáns Individuum nur innerhalb der Gesellschaft Sinn; es kann nicht mit den anderen leben und nicht ohne sie. Es ist eine Monade, die getrennt von allen anderen besteht, da sie a priori als Feinde oder Unterdrücker gelten.

Das Gesetz, das Prinzip, die Grundlage, welche die Basis der abendländischen Philosophie bildeten, werden bei Gracián durch den Relativismus, die Gelegenheit und die Meinung ersetzt, was ihn für die Postmoderne interessant macht. Die List, das kluge Vorgehen, die Verstellung ersetzen die alte Tugend.

Aber sein lebenskluger Mensch muss vor allem sich selbst und die anderen gut kennen, um sich in der Gesellschaft zu bewegen. Das wahre Wissen ist es, »zu leben zu verstehn«, das »praktische Wissen«: »Wozu dient das Wissen, wenn es nicht praktisch ist?« Dieses Wissen ist eine Verbindung verschiedener und manchmal gegensätzlicher Fähigkeiten: Feinfühligkeit, Gewandtheit, Erfahrung, Aufmerksamkeit, Verstellung, Sinn für Gelegenheit und vor allem Vorsicht. Das Individuum, das dieses Wissen besitzt, wird gut von der Figur des »Kaufmanns« verkörpert.

Im Zeitalter Graciáns, in dem alles beginnt, Waren-und Geldform anzunehmen und die Marktgesetze anfangen, alle menschlichen Beziehungen zu durchdringen, muss man in der Tat lernen, seine Sachen zu verkaufen und Kaufmannsgeist zu haben. Man muss ihnen Wertschätzung verschaffen, indem man sie lobt und ihnen schöne Namen gibt. Man soll sie nur für »Einsichtige« bestimmen, »da alle sich für solche halten, und wenn etwa nicht, dann der gefühlte Mangel den Wunsch erregen wird«. Das kann erklären, warum heute sogar Manager großes Interesse für Graciáns Werk zeigen. Angesichts der unsicheren und zwiespältigen Situationen, die kleinen und großen Betrieben vertraut sind, wird die strategische Dimension entscheidend, und Graciáns Werk kann anscheinend eine Hilfe darstellen.