Der Balkan und der Westen

Zu kurz gegriffen

Der Kampf um die globale Hegemonie ist weder beendet noch entschieden. Deutschlands Hauptagitationsfeld bleibt Ost- und Südosteuropa.

Auch Deutschland hat Eigeninteressen. (...) Konflikte werden dabei nicht ausbleiben.« Was unter der Regierung Kohl nur hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurde, wird von der Schröder/Fischer-Gang unverblümt ausgesprochen. Die einleitenden Worte ließ der ehemalige Staatsminister für Kultur, Michael Naumann (SPD), am 5. April quasi en passant auf der Titelseite der Zeit unter der Überschrift »Wenn Zwerge wachsen« fallen. Im Anschluss forderte er von den deutschen Außenpolitikern, sie müssten lernen, sich selbständiger als bisher im Bündnisgeflecht Europas zu behaupten und neue Spielräume im Verhältnis zu den USA und Russland öffnen.

Robert Kurz möchte davon nichts wissen. Für ihn ist die Rede und die Relevanz von nationalen Interessen ein Hirngespinst antideutscher Verschwörungstheoretiker, die nicht erkennen wollen, dass sich die weltpolitische Struktur in einen Monozentrismus der letzten Weltmacht USA verwandelt habe. Doch undurchschaubar muss dem Monozentristen bleiben, warum die große Koalition von der CDU bis zu den Grünen im November 1991 den Bundestagsbeschluss zur einseitigen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens und damit zur Aufspaltung Jugoslawiens fasste, während die US-Regierung dagegen zwar vehement, aber hilflos protestierte. Dieses für Kurz sicher nur sekundäre Ereignis bildete den Ausgangspunkt für den wenige Monate darauf beginnenden Krieg in Bosnien-Herzegowina.

Ebenso wenig vermag Kurz zu erklären, warum Deutschland und Frankreich nach dem Kosovo-Krieg den Aufbau einer eigenständigen europäischen Armee forcierten, die auch ohne ein Mandat der Nato oder der Uno agieren soll. Die unerwartet deutliche Zurückweisung dieser Pläne durch den US-Verteidigungsminister auf der Münchener Wehrkundetagung im Frühjahr ist für Kurz allenfalls eine Marginalie im Prozess der alles bestimmenden Globalisierung, die nationale Interessen nicht mehr zum Zuge kommen lässt.

Dagegen bleibt festzuhalten: Der polyzentrische Kampf um die Welthegemonie zwischen zwei Supermächten ist nach 1989 nicht beendet. Heute tritt nicht mehr die Sowjetunion den USA entgegen, doch ein Europa unter deutscher Führung bezieht allmählich Stellung gegen den Big Brother, sei es im Iran, im Irak, in Israel/Palästina, in Russland oder in Südosteuropa. Der Kampf um die globale Hegemonie ist nicht entschieden, er befindet sich vielmehr in seiner Vorbereitungsphase, in der alle Akteure nach möglichen Partnern suchen und diverse Finten ausprobieren. Dass sich das deutsche Hauptagitationsfeld dabei in Ost- und Südosteuropa findet und alte »Hilfsvölker« im Baltikum, in Kroatien oder im Kosovo für eine Pax Germanica votieren, kann nur geschichtslosen Theoretikern als irrelevanter Zufall erscheinen.

Zu befragen wäre ebenso der Imperialismusbegriff der Globalisierungstheoretiker. Kurz hat zwar Recht, wenn er betont, dass sich für die Mehrheit der Weltbevölkerung heute keine Reproduktionsmöglichkeiten mehr bieten und dass sich gegen diese »Überflüssigen« ein Sicherheitsimperialismus der Schengen-Staaten und der USA etabliert.

Doch ist dies wirklich das entscheidend neue Moment in der Geschichte des Imperialismus? War die Abwehr der Pauperisierten von den Metropolen, deren passives Verhungernlassen oder aktives Ermorden nicht immer integraler Bestandteil kolonialistischer und imperialistischer Politik? Sperrten sich nicht bereits nach dem Ersten Weltkrieg die europäischen Großmächte gegen die Aufnahme der Flüchtlinge, Staatenlosen und displaced persons?

Am weitesten gingen in den dreißiger und vierziger Jahren die irren deutschen Interessen. Mindestens ebenso wie von der Suche nach Absatzmärkten waren sie von der Gier nach Rohstoffen und billigen landwirtschaftlichen Produkten bestimmt. Das nationalsozialistische Deutschland sah in seinen Plänen der Umstrukturierung und Rationalisierung Ost- und Südosteuropas für einen Großteil der dortigen Bevölkerung nicht die Reproduktion, sondern Vertreibung und Tod vor.

Doch ganz im Hier und Jetzt verhaftet, behauptet Kurz: »Der Zugang zu strategischen Rohstoffreserven bildet durchaus ein Interessenmoment, aber eben nur eines unter anderen, das sich nur noch in der Form eines kollektiven Sicherheitsimperialismus äußern kann.« Ein kurzer Blick in die Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 überzeugt uns vom Gegenteil. Dort findet sich im Kapitel »Deutsche Wertvorstellungen und Interessen« das vorrangige Ziel: »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt«.

Die imperialistische Medaille hat eben zwei Seiten. Einerseits ist Kurz zuzustimmen, wenn er in Jungle World 19/99 die Herausbildung einer regional gestaffelten Ausgrenzungshierarchie skizziert, die von einigen wenigen an Nato und EU assoziierten Ländern wie Polen oder Slowenien über einen Gürtel von Satrapenstaaten, etwa vom Typus Kroatien, bis zu völlig unselbständigen, von internationalen Organisationen verwalteten Protektoraten etwa vom Typus des Kosovo oder Nordiraks reicht.

Nur sollten materialistisch geschulte Theoretiker dieses Modell andererseits nicht nur als Abschottungs-, sondern auch als Integrations- bzw. Anbindungshierarchie in einem Europa der Arbeitsteilung und Verwertung nach deutschem Gusto begreifen. Polen und Slowenien können sozusagen als verlängerte Werkbänke innerhalb der EU benutzt werden, Teile Kroatiens und Rumäniens und vielleicht sogar Bosnien-Herzegowinas als Billigtouristik- und Freihandelszonen der EU fungieren, während dem Kosovo und Albanien nur die Armutsverwaltung bleibt. Die Zukunft Serbiens und Montenegros dürfte zwischen der zweiten und der dritten Stufe liegen. Die Etablierung dieser Verwertungshierarchie bildete die Hauptmotivation für die mit dem deutschen Alleingang von 1991 vollzogene Herauslösung Sloweniens und Kroatiens aus der jugoslawischen Föderation.

Aber noch eine weitere Frage stellt sich nach der Kurz-Lektüre. Wer ist die ökonomische Hegemonialmacht in Ost- und Südosteuropa? Die monozentrische Weltmacht USA? Nein, der Exportweltmeister Deutschland. Um den Verhältnissen ihre unschöne Melodie vorzusingen, sollte man auch wissen, wo die Musik gemacht wird. Die Lektüre der FAZ, des Zentralorgans der deutschen Nationalökonomie, reicht aus, um zu erkennen, dass in deutschen Think Tanks der - von Kurz als Geisterschlacht negierte - Kampf zwischen einer Pax Americana und einer Pax Germanica auf dem Territorium der ehemaligen jugoslawischen Föderation ausgefochten wird. Seit Jahren wird dort im Widerstreit mit der US-Strategie die weitere Aufspaltung Jugoslawiens in die Kleinststaaten Montenegro, Vojvodina, Kosovo und Sandschak propagiert.

Im imperialistischen Weltordnungskrieg ging es nie allein um das Ausstechen von Konkurrenzmächten, sondern immer auch um die militärische Unterwerfung von Regierungen kleiner Staaten, die nicht bereit waren, ihre Ökonomie dem Diktat der jeweiligen kapitalistischen Hegemonialmacht zu unterwerfen. Dies bestimmte z.B. die Intervention des US-amerikanischen Geheimdienstes in Chile 1973, dies bildete den Ausgangspunkt für die deutsch-österreichischen Angriffskriege auf Serbien 1914 und Jugoslawien 1941.

Und dies verweist auch auf die materiellen Beweggründe für den Nato-Krieg gegen Jugoslawien 1999. Die Regierung Milosevics war aus mafiösen und an Machterhalt orientierten Interessen nicht bereit, in Jugoslawien die Rolle des Verwalters von IWF-Diktaten und einer von EU-Kriterien bestimmten Privatisierung und Kahlschlagsanierung der jugoslawischen Ökonomie zu spielen. Deshalb wurde Milosevic zum Schurken erklärt. Mit der nach der Zermürbung der jugoslawischen Bevölkerung durch Krieg und Wirtschaftssanktionen erfolgten Wahl Kostunicas und des German boy Djindjic sind die Barrieren für IWF-Diktate und eine von Deutschland dirigierte Privatisierungspolitik aus dem Weg geräumt.

Demgegenüber speiste sich die US-amerikanische Orientierung auf einen Krieg gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999 nach langem Zögern offensichtlich weniger aus ökonomischen Motiven als vielmehr aus militärstrategischen Überlegungen. Am 23. Februar 1999 wurde in einem Kommentar des renommierten US-amerikanischen Journalisten William Pfaff die herausragende Bedeutung der transatlantischen Konkurrenz für ein zu diesem Zeitpunkt angeblich notwendiges Handeln der Nato gegenüber Jugoslawien betont: »Der bekannte Spruch aus den Vierzigern besagt, dass der Zweck der Nato darin bestand, die Amerikaner drinnen, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten. Es liegt in der Natur der heutigen Verhältnisse, dass der letzte Zweck weiterlebt, sofern man 'Deutschland' mit 'Europäische Union' übersetzt. (...) Die derzeitigen Unstimmigkeiten über die neue Auftragsdefinition der Nato sind der unausgesprochene und erstaunlich diskret behandelte Ausdruck dieser neuen Konkurrenzbeziehung zwischen Westeuropa und den USA« (zit. nach Matthias Küntzel, »Der Weg in den Krieg«, Berlin 2000, S. 152).

Doch anstatt diesen Schleier der Diskretion zu lüften und der fortschreitenden deutschen Hegemonie über Ost- und Südosteuropa ihre unschöne Melodie zu singen, betäubt sich der Globalisierungstheoretiker mit der Mär vom Monozentrismus.