Ein Herz für Lügner

Auch zwei Jahre nach dem Beginn des Nato-Krieges soll die Frage nach seiner Legitimation verboten bleiben. Schließlich soll der Kosovo-Einsatz den Sinn für weitere Interventionen stiften.

Die Wochenzeitung Das Parlament erklärt ihren Lesern in einfachen Worten und Bildern, welche Meinung man haben sollte. Deshalb wird die Publikation des deutschen Bundestages auch gerne zur Erziehung junger Staatsbürger im Schulunterricht eingesetzt. Anfang März, in der Themenausgabe »Bundeswehr«, war beispielsweise folgendes zu lesen: »35 bunte Fähnchen stecken in der Weltkarte, die im Büro von Javier Solana, dem Hohen Repräsentanten der Europäischen Union (EU) für Außen- und Sicherheitspolitik, hängt. Jedes symbolisiert einen aktuellen Gewaltkonflikt, meist fern europäischer Grenzen. Rot, gelb grün, blau - je nach Ernst der Lage. Jedes dieser Fähnchen könnte aber schon bald den Einsatzort deutscher Soldaten markieren, wenn, wie geplant, im Sommer 2002 die 'Europäischen Krisenreaktionsstreitkräfte' einsatzbereit sind.«

Weiter unten präsentiert der Grundkurs in Sachen Staatsräson ein noch schöneres Bild: »Die Deutschen, die sich im Bosnienkrieg noch recht amateurhaft anstellten, verdienten sich im Kosovo-Konflikt ihren Ritterschlag und haben sich zu wahren Friedenssoldaten gemausert.«

Der Begriff des »Friedenssoldaten« ist das ideologische Kondensat einer Entwicklung, deren Notwendigkeit durchweg mit dem Kosovo-Krieg begründet wird. Während die Bundeswehr und andere europäische Armeen mit großer Eile auf Interventionsstandard hochgerüstet werden, erklären Parlamentarier und Publizisten, warum das so sein muss. Der Nato-Krieg gegen Jugoslawien habe erstens gezeigt, wie Schurken vom Schlage Milosevics das Handwerk zu legen sei. Zweitens sei bei dieser Gelegenheit auf blamable Weise deutlich geworden, dass die europäischen Militärkapazitäten unbedingt an die der USA angepasst werden müssten, um bei Bedarf auch eigenständig handeln zu können.

Der höhere Zweck des Ganzen sei die Wahrung der Menschenrechte und die Verhinderung humanitärer Katastrophen. Diese Art des Militärdenkens dominiert mittlerweile den außenpolitischen Horizont des Normalbürgers, und ihre folgenreichste Innovation besteht darin, dass Deutschlands Rolle als europäische - und globale - Ordnungsmacht nun die staatliche Gewaltanwendung ganz selbstverständlich einschließt.

Für die allgemein geäußerte Absicht, bei Bedarf demnächst weitere Kriege zu führen, stiftet gegenwärtig also allein das Bombardement Jugoslawiens den erforderlichen Sinn. Insofern hat die Erfolgsstory des Kosovo-Krieges für Interventionsstrategen eine ähnliche Bedeutung wie das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes für die katholische Kurie.

Und darin wiederum liegt der Antrieb für die energischen Bemühungen, das Nato-Unternehmen als Muster einer gelungenen humanitären Intervention zu historisieren und die betreffenden Akten zu schließen. In Vollendung formulierte dies der CDU-Abgeordnete Christian Schwarz-Schilling am 16. Februar, als im Bundestag auf Antrag der PDS über die »Gründe zum Eintritt in den Kosovo-Krieg« debattiert wurde: »Es ist nur interessant, dass die PDS immer wieder einen Grund sucht, in diesen Geschichten herumzubohren.«

Herumgebohrt in diesen Geschichten haben auch die WDR-Redakteure Jo Angerer und Mathias Werth. Ihre Dokumentation »Es begann mit einer Lüge« strahlte die ARD am 8. Februar aus. Dargestellt wurde anhand verschiedener Beispiele, wie seinerzeit Mitglieder der Bundesregierung, insbesondere Verteidigungsminister Rudolf Scharping, die hiesige Öffentlichkeit über die Ereignisse im Kosovo täuschten, um möglichst viel Zustimmung zum Krieg der Nato gegen Jugoslawien zu erreichen. Zwei Tage nach der Ausstrahlung des Beitrags begann, was Redakteur Angerer wenig später eine »Kampagne« nennen sollte. Angeführt von der FAZ, behaupteten u.a. Die Welt, der Tagesspiegel und die Süddeutsche Zeitung, die Dokumentation sei unter Verletzung elementarer journalistischer Prinzipien entstanden und diene der Rehabilitation Slobodan Milosevics. Ähnliches war letzte Woche auch im Spiegel zu lesen.

In einer Stellungnahme hat der WDR detailliert dargelegt, dass die Anschuldigungen »haltlos und zum Teil frei erfunden sind«. Das Ausmaß der Aufregung ist darauf zurückzuführen, dass die Dokumentation ein paar neue, großenteils aber längst bekannte regierungsamtliche Lügen und Erfindungen erstmals vor einer Öffentlichkeit zur Sprache brachte, die außerhalb der Reichweite linker Zirkel und Szenepublikationen liegt. Die Mechanik der Skandalisierung wiederum bezeugt, dass die mit einem nahezu pathologischen Eifer betriebene Verteidigung der Staatsräson sich gegenüber einer faktengestützten Argumention blind machen muss.

Besonders deutlich wird dies im Umgang mit der wichtigsten aller Fragen, dem Kriegsgrund. Eingangs ein Filmausschnitt vom dritten Tag der Operation, in dem Scharping feststellt: »Wir wären ja auch niemals zu militärischen Maßnahmen geschritten, wenn es nicht diese humanitäre Katastrophe im Kosovo gäbe.« Als Beleg für die Tatsache, dass die serbische Gewalt gegen die Kosovo-Albaner nicht vor, sondern erst nach dem Beginn der Luftangriffe eskalierte, führt die WDR-Dokumentation eine ganze Reihe von Belegen an.

So äußert sich vor der Kamera u.a. die damals im Kosovo tätige US-Diplomatin Norma Brown: »Bis zum Beginn der Nato-Luftangriffe gab es keine humanitäre Krise.« Zitiert wird auch jener geheime Lagebericht aus Scharpings Ministerium, der wenige Tage vor Kriegsbeginn erstellt wurde: »Die serbischen Sicherheitskräfte beschränken ihre Aktionen in jüngster Zeit auf Routineeinsätze wie Kontrollen, Streifentätigkeit, Suche nach Waffenlagern und Überwachung wichtiger Verbindungsstraßen.«

Auf die öffentlich-rechtliche Demontage nicht irgendeines, sondern des zentralen Arguments für den Kriegsbeginn reagierten die Kritiker der WDR-Dokumentation ziemlich grob. Erstens wurde der WDR des »Bulldozer-Journalismus« (FAZ) bezichtigt. Zweitens wurde plötzlich behauptet, bei der Frage nach der humanitären Katastrophe handele es sich um ein Detailproblem. Drittens, bitteschön, könne man notfalls durchaus auch die langjährige Diskrimierungspolitik, die Milosevic gegen die Kosovo-Albaner betrieb, als humanitäre Katastrophe bezeichnen. Zusätzlich wurden, etwa von Matthias Rüb in der FAZ, die Erfindungen Scharpings einfach noch einmal wiederholt: »Im Kosovo fand vor und während des Luftkrieges der Nato ein Völkermord an den Albanern statt.« Deutlich wurde insgesamt, dass die Legitimität dieses Krieges keine Sache ist, die in irgendeiner Weise zur Verhandlung steht.

Ganz offensichtlich aus diesem Grund wurde auch die Bundestagsdebatte vom 16. Februar, die vorrangig um die WDR-Dokumentation kreiste, in den Medien kaum erwähnt. Dabei handelte es sich um eine Sternstunde des Parlaments. So äußerte etwa der SPD-Abgeordnete Reinhold Robbe, »dass es völlig unerheblich ist, ob bei einem Massaker, Herr Gysi, in Rugovo die hinterrücks erschossenen Kosovo-Albaner vielleicht auch einen Mitgliedsausweis der UCK bei sich trugen«, also Bürgerkriegs-Kombattanten waren, wie es im WDR-Beitrag hieß.

Der CSU-Abgeordnete Christian Schmidt sagte, die Entscheidung für den Krieg habe auf eine »lang andauernde Entwicklung« reagiert, und insofern »kommt es auf das, was der finnische Untersuchungsbericht über Racak aussagt, nicht im Detail an«. Wohlgemerkt: Das vorgebliche, durch die nachfolgenden Untersuchungen jedoch dementierte Massaker von Racak hatte seinerzeit entscheidend zu der von Joseph Fischer und Rudolf Scharping forcierten Kriegsstimmung beigetragen. Und obwohl sogar ein Bericht der Parlamentarischen Versammlung der Nato vor vier Monaten von »dem bis heute nicht restlos aufgeklärten angeblichen Massaker von Racak« sprach, betonte der grüne Bundestagsabgeordnete Helmut Lippelt nun, es sei »klargestellt, dass dieses Massaker an 45 Zivilisten geschehen ist«. Die WDR-Sendung hingegen bezeichnete er als »Höhepunkt von unglaublichen Unverschämtheiten«.

Die Essenz der Debatte spiegelt sich exemplarisch im Statement des Sozialdemokraten Dieter Schloten: »Selbst wenn Racak falsch interpretiert worden ist und manches andere Bild dazu, ein falsches Bild - das tun auch mehrere falsche Bilder nicht - ändert nichts an der grundsätzlichen Berechtigung des Nato-Einsatzes im Kosovo.«

Und Angelika Beer wiederholte zwar die Lüge von der »zugespitzten Situation« bei Kriegsbeginn, stellte aber gleichzeitig fest, neben den humanitären habe man auch »regionalpolitische« Aspekte im Auge gehabt, nämlich »die Gefahr einer zunehmenden politischen Destabilisierung der Region durch die kontraproduktive Wirkung der Politik des Milosevic-Regimes«. Das war ehrlich und zeigt für künftige Interventionen, wie hübsch sich Humanität und internationale Raumplanung miteinander verschmelzen lassen.

www.wdr.de