Das Scheitern der 68er

Wo ist das Verb?

Die aktuelle Debatte um Apo-Militanz kündet nicht nur von intellektueller Regression, sie beweist auch, dass die 68er nichts erreicht haben.

Der einzige Einwand, der der parlamentarischen Opposition bisher regelmäßig zur Politik der rotgrünen Regierung einfiel, war die Behauptung, man selbst würde zwar nichts anders, das Gleiche aber noch besser machen. Im Hintergrund herrschte weitgehend Einvernehmen über die innen- und außenpolitischen Notwendigkeiten. Die Entschlossenheit, mit der die Regierung der Neuen Mitte Reformen anging und das Militär als Mittel der Außenpolitik einsetzte, überzeugte bald auch weite Teile der traditionell konservativen Publizistik. Sogar in der Bild-Zeitung, die die einfachen Leute immer vor sozialdemokratischer Misswirtschaft und grünen Chaoten gewarnt hatte, waren plötzlich wohlwollende Bemerkungen über Gerhard Schröder, Joseph Fischer, Hans Eichel oder Rudolf Scharping zu lesen.

Seit ein paar Wochen ist es mit dieser Idylle vorbei. Der Sturz der Regierung steht plötzlich zur Debatte. Die Zeitungen des Springer-Konzerns werden von Kanzler Schröder und anderen verdächtigt, eine »Kampagne« zur Demontage von Rotgrün zu betreiben. Die »Berliner Republik«, so der Spiegel letzte Woche, streitet heftig darüber, »ob die Jahre 1968 folgende für Deutschland eher ein Fluch oder ein Segen waren«.

Diese Frage, die allerorten auftaucht und auch brav beantwortet wird, zeigt beispielhaft, dass die 68er - trotz gegenteiliger Beteuerungen - an der Zivilisierung des Gemeinwesens gescheitert sind und politisch wenig erreicht haben. Der staatstragende Affekt, der »Deutschland« ganz selbstverständlich zum Maß der Protestbewegung macht, steht für das Fortleben jener Haltung, die große Teile der außerparlamentarischen Opposition 1968 ff. bekämpft haben: Damals wie heute betrachtet man hierzulande die Unternehmungen der von Hitler angeführten Volksgemeinschaft mehrheitlich als Katastrophe für die Nation und weniger als Katastrophe für deren Opfer.

Neben ihrem Verlangen nach staatspolitischen Bekenntnissen spiegelt die Frage, ob gewisse Jahre eher ein Fluch oder ein Segen waren, exakt jene intellektuelle Regression wider, die einst den Unmut der Protestbewegung, zumal an den Universitäten, mit hervorgerufen hatte. Die Zeitungsredakteure und der Hinterbank-Nachwuchs der Unionsparteien, die heute mit den Veteranen der Protestbewegung über Gewalt, Militanz und Kritik diskutieren, sind Abziehbilder des stammtischkompatiblen konservativen Idealtyps der sechziger und siebziger Jahre.

Der im Rückblick erhobene Faschismusvorwurf gegen die damaligen Linksradikalen, die u.a. vom Bundeswehrhistoriker Michael Wolffsohn betriebene Gleichsetzung von Apo-Militanz und Neonazi-Gewalt, das Flugblatt der Jungen Union, auf dem das Foto des prügelnden Joseph Fischer neben einer Aufnahme jener deutschen Hooligans zu sehen ist, die bei der Fußball-WM 1998 einen französischen Polizisten zum Krüppel schlugen - diese Argumente sind von ähnlicher gedanklicher Brillanz wie jene, mit der deutsche Konservative in den siebziger Jahren in einem Atemzug die Apo-Militanz verurteilten und ihre Sympathien für blutige Diktaturen in aller Welt begründeten. Den von den Rechten betriebenen Kult der Dummheit hat jetzt Springers Welt noch einmal schön in Szene gesetzt: »Rätselhafte 68iger. Man liest ihre Manifeste, hört ihre Parolen, buchstabiert ihre politischen Glaubensbekenntnisse nach und fragt sich: Was soll das heißen? Wer kann das verstehen? Wo ist das Verb?«

Die Reaktion der attackierten Ex-Militanten besteht darin, dass sie gemeinsam mit den konservativen Inquisitoren den derzeit vielzitierten Deutschen Herbst in einem verkleinerten Maßstab noch einmal nachspielen. Sie erscheinen zum Rapport, distanzieren sich, gestehen Irrtümer ein, berufen sich auf die Umstände der Zeit, geben faschistoide Tendenzen zu und bekennen sich zum Gewaltmonopol des Staates - auch solche, die es nicht, wie Fischer und Trittin, vollstrecken. Sie lassen sich neuerdings sogar gerne treten. Nachdem vor ein paar Tagen die Bild-Zeitung wieder einmal zur Hochform der siebziger Jahre aufgelaufen war und wider besseres Wissen anhand eines manipulierten Demonstrationsfotos Jürgen Trittins Militanz dokumentiert, also eine außerordentlich plumpe Fälschung fabriziert hatte, akzeptierte der verleumdete Umweltminister umstandslos eine schmierige kleine Entschuldigung aus der Zentrale der antilinken Hetze.

Der Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit, einst einer der Anführer der Revolte, sagte letzte Woche im Spiegel-Gespräch: »Ich habe einmal mit Jürgen Habermas über 1968 und die Folgen diskutiert. Ich habe ihm gesagt, unser größter Fehler sei der Mangel an demokratischer Sensibilität gewesen, und ich habe ihm im Nachhinein recht gegeben für seinen Satz vom Linksfaschismus der Studenten.«

Der Eifer, mit dem sich ehemalige Staatsfeinde - zumeist ohne selbst irgendwelcher Taten bezichtigt worden zu sein - bei ihren konservativen Kritikern entschuldigen, macht deutlich, dass politisches Alltagsbewusstsein und Gesinnungskontrolle heute mindestens so gut zusammenpassen wie beispielsweise vor vierzig Jahren. Figuren, die Konformismus als höchste Tugend betrachteten, nannte man damals Spießer. Das Groteske ist, dass die Ex-Radikalen heute überzeugender als alle anderen zur Affirmation des Bestehenden aufrufen können, weil die eigene Lebensgeschichte vorgeblich dafür bürgt, dass Auflehnung und Verweigerung ins Verbrechen führen, wenn nicht gar gleich ein Verbrechen sind. Oder dafür, dass sie überflüssig geworden sind.

Die Rekonstitution des Spießers ist nicht die Folge, sondern war die Voraussetzung für die aktuelle Attacke von rechts. Staat und Ordnung - der Rückgriff auf die immer noch gültigen Essentials der Konservativen und ebenfalls die Form der Kampagne, die auf die traditionellen Mittel der Hetze, des Ressentiments und der Denunziation setzt, funktioniert am besten, wenn niemand da ist, abweichendes Denken und Handeln zu verteidigen. Die meisten der jetzt angeklagten 68er verteidigen kaum etwas, sondern bitten nach dem gleichen Muster um Berücksichtigung der Zeitumstände, das Alt-Nazis pflegen, wenn sie ihr Mittun in der braunen Bewegung reflektieren.

Das ist die einzige Parallele, die sich zwischen Hitlers Anhang und ehemaligen Linksradikalen ziehen lässt. Allerdings ist noch niemand auf die Idee gekommen, jene monströsen Gestalten, die heute in den historischen Serien von ZDF und ARD als »Zeitzeugen« freimütig über den nationalsozialistischen Massenmord an Juden und Russen schwadronieren, nach ihrem Verhältnis zur Gewalt zu befragen. Die wurde schließlich von Staats wegen ausgeübt.

Die Schröder-Regierung wird an der aktuellen rechten Kampagne nur zerbrechen, wenn vorzeigbare Zeugen dafür gefunden werden, dass der heutige Außenminister mehr mit Molotow-Cocktails oder Terroristen zu tun hatte als bisher eingestanden. In diese Situation hat sich Fischer selbst hineinmanövriert. Eine breite Basis innerhalb des Establishments hat der konservative Riot derzeit nicht. Er steht aber vielleicht für den neuen Machthunger einer deutschnationalen Radau-Rechten, die sich von Leuten wie Angela Merkel nur ungenügend repräsentiert fühlen dürfte. Dass die CDU genau auf dem Höhepunkt des 68er-Bashings jenes Plakat anfertigen ließ, das den Bundeskanzler als Straftäter in Sachen Rente vorführt und damit zielsicher Assoziationen an eine gerechtfertigte Absonderung des Betrügers am Volk freisetzt, ist da kein Zufall.

Cohn-Bendit hat gemerkt, worum es geht, und erinnert beinah flehentlich an die eigenen Verdienste: »Das war eine gebrochene Gesellschaft, in der wir in den siebziger Jahren gelebt haben, ein gespaltenes Land. Die Erfolgsstory der Grünen besteht darin, den Bruch überwunden zu haben. Wer sagt, dass Fischer nicht Außenminister sein darf, will diese Gesellschaft wieder spalten.« Aber nur, um sie noch fester zusammenzufügen. In diesem Sinne, das beweist die aktuelle Debatte, ist nichts unmöglich.