Welt der Warenform XVII

Jahreswagen

Niedersachsen liegt bei Wolfsburg. Und dass es so etwas wie Wolfsburg gibt, liegt am KdF-Wagen. Schlimme Sache!

Als der Krieg dann aber vorbei war, nannte man ihn schlicht »Jahreswagen«, denn man muss ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, wenn man schon unheilvolle Traditionen wiederbelebt bzw. gar nicht erst mit ihnen bricht. Jahreswagen klingt wie Jahresurlaub, Jahrhundertsommer, Jawort oder Jalousette und soll wohl suggerieren, dass es sich hier um eine schöne, zumindest unbedenkliche Sache handelt. Die Normalität eben, das Alltägliche. Und das stimmt auch wirklich, jedenfalls für Niedersachsen, denn hier hat jeder einen Jahreswagen, denn hier arbeitet jeder bei VW und bekommt ihn folglich anderthalb Mille günstiger. Aber ist Gevatter Alltag, unser ständiger Begleiter, nicht allzuoft ein rechter Januskopf? Fürwahr.

So freut sich der Werksangehörige alle Jahre wieder auf sein fabrikneues Auto, für das er nach dem Verkauf des alten, einschließlich der Preissteigerung, nur läppische 2 000 Mark drauflegen muss. Er ist gespannt, seine Hände reiben nervös an der Hosennaht der Bundfaltenjeans, die tabakgelben Grindfinger nesteln eine weitere Lord aus der kein bisschen zerknautschten Schachtel, und dann ist es doch bloß wieder ein Golf, weil der sich als »Einjähriger« am besten verkaufen lässt.

Damit sind wir denn auch schon beim eigentlichen, nämlich Nerven zerspleißenden Problem. Da der Gebrauchtwagenmarkt der Region stets ein gewisses Maß an Sättigung aufweist, hängen in den letzten sechs bis acht Wochen vor Lieferung des neuen Gefährts tiefschwarze Gewitterwolken unter der holzgetäfelten Decke hiesiger Wohnküchen: Man wird das alte, nunmehr verhasste Mobil partout nicht los. Stattdessen wechseln Vorwürfe ihre Besitzer: »Ich hab dir gleich gesagt, die Farbe kannstu bis an dein Lebensende fahren!« - »Wieso, du fandst die doch auch hübsch.« - »Hübsch! Hübsch! Wenn ich das schon höre!«

Und dabei hat man doch alles getan, um die Attraktivität des Kraftfahrzeugs wieder herzustellen, ist eigens zum Beuler gefahren, der die kleine Delle auf dem Dach mit einem geübten Schlag seines Gummihämmerchens entfernte, hat gewaschen, gewienert, gewachst wie nur je ein autoritärer Zwangscharakter Wilhelm Reichscher Provenienz. Und dann sogar über Nacht den kleinen Elektromotor angeschlossen, der den Tachostand von 35 000 auf die gerade noch so akzeptablen 14 988 Kilometer zurückdreht.

Als ich ihn zum ersten Mal surren hörte, war ich noch ein kleiner Junge und wusste nichts von den Gebräuchen in diesem tristen Jammertal nahe der Autostadt. Also fragte ich meinen Vater, was da vor sich gehe. »Der Wagen soll doch verkauft werden«, erinnerte er mich, »ich muss noch die Batterie aufladen.« Er konnte lügen, ohne dabei einen Lidschlag mehr als nötig zu tun. Wie ich. Es sind also doch die Gene. Angemessen überrascht rief ich aus: »Was? Ist die Batterie etwa schon leer? Es ist doch ein Jahreswagen!« Aber er lachte nur und packte seine Tasche für die Spätschicht: »Da hast du auch wieder Recht!«