Werkausgabe von J.M.R. Lenz

Der neue Lenz ist da

Am 23. Januar wäre Jacob Michael Reinhold Lenz 250 Jahre alt geworden. Nun ist eine neue Werkausgabe herausgekommen.

Goethe war sein Schicksal, im Leben und beinahe auch noch post festum. Jacob Michael Reinhold Lenz war ein streng pietistisch erzogener Pfarrerssohn, der durch die Vorlesungen Kants, die er während seines Studiums in Königsberg besucht hatte, und durch die Lektüre von Rousseau, Shaftesbury und Pope aufklärerisch geläutert worden war. Als intellektueller Stallbursche von zwei Baronen kam er nach Straßburg und lernte den damals gerade voll im Saft stehenden, kraftgenialischen Jung-Olympier kennen. Diese Begenung riss ihn hin und mit. Eine fulminante literarische Initiation.

Innerhalb weniger Jahre schrieb er sich in die vorderste Reihe der jungen Wilden des Sturm und Drang, reüssierte als Lyriker, als Essayist, vor allem aber als Dramatiker und Dramentheoretiker. Dann folgte er, der mutwillige, unangepasste, überspannte Feuerkopf, seinem Leitstern nach Weimar, wusste sich aber bei Hofe nicht recht zu benehmen und beging die in der Literaturgeschichtsschreibung viel besprochene »Eseley«: Ihm wird ein Spottgedicht über das Verhältnis Goethes zu Frau von Stein zugeschrieben. Dafür flog er aus dem Herzogtum Sachsen-Weimar und fiel, gedemütig, mittellos, nunmehr übel beleumdet und von vielen ehemaligen Weggefährten verraten, zumindest zeitweilig dem Wahnsinn anheim. Das literarische Aus.

Da waren nicht einmal sieben Jahre vergangen. Über dreieinhalb Jahrzehnte später, Lenz war schon lange tot, kartete der Geheime Rat noch einmal nach. In »Dichtung und Wahrheit« schrieb er: »Lenz (...), als ein vorübergehendes Meteor, zog nur augenblicklich über den Horizont der deutschen Literatur hin und verschwand plötzlich, ohne im Leben eine Spur zurückzulassen.« Doch Goethe irrte. »Lenz ist sicher kein ðvorübergehendes MeteorЫ, schreibt Henning Boëtius in seinem Porträt für die Reclam-Galerie »Deutsche Dichter«. »Er ist allerdings auch keine strahlende Sonne, nicht einmal ein Fixstern zweiter Größe. Er ist ein Wandelstern, den man bekanntlich am Flimmern und an seiner regelmäßigen Wiederkehr erkennen kann.«

Und in der Tat, obwohl die traditionelle Germanistik sich immer schon darin gefiel, Goethe nachzubeten und den Kleineren noch kleiner zu reden, kam es trotzdem in regelmäßigen Abständen zu Renaissancen des Dichters. Man kann ihn durchaus als eine Art Indikator für linke Umtriebigkeit heranziehen. Denn gerade in bewegten, sozial aufgeregten Zeiten hat man sich gern an dessen poetisches wie poetologisches Revoluzzertum erinnert: Georg Büchner, der den Dichter im Vormärz mit seiner empathischen Novelle dem Vergessen entreißt, zur Jahrhundertwende die Naturalisten und schließlich die Studentenbewegten in den sechziger und siebziger Jahren.

Das hat seine Ursache im detailscharfen, bisweilen drastischen Realismus, der auch das Sexuelle nicht ausblendet. Seine Milieuschilderungen sind bis in die jeweiligen Spracheigentümlichkeiten hinein stimmig und seine Stücke haben einen für seine Zeit durchaus kühnen sozialreformerischen Impetus. Und nicht zuletzt geht es auch um seine bilderstürmerische Poetik »Anmerkungen übers Theater«, die immerhin eine 2 000jährige Dramentheorie - die aristotelische mit ihrer »jämmerlich berühmten Bulle der drei Einheiten« (des Ortes, der Zeit und der Handlung) - über den Haufen schmeißt und das dichtende Subjekt, das Genie, an die Stelle des normativen Regelwerks setzt: »Der Dichter und das Publikum müssen die eine Einheit fühlen aber nicht klassifizieren. Gott ist nur Eins in allen seinen Werken, und der Dichter muß es auch sein.«

Mit dieser Aufwertung des künstlerischen Individuums modifiziert sich freilich auch das Realismus-Verständnis der Literatur. Sie sei nur mehr eine »Rückspiegelung« der Welt von einem »Standpunkt« aus und eben nicht mehr eine Konstruktion, die objektiven, vernünftigen, gleichsam den Naturgesetzen analogen Regeln zu gehorchen habe. Damit nimmt er den Realismus-Begriff des 20. Jahrhunderts vorweg.

Seine beiden bekanntesten Dramen »Der Hofmeister oder Vortheile der Privaterziehung« und »Die Soldaten« spiegeln nicht mehr und nicht weniger als seine eigene Erfahrungswelt. Er hat die bedrückende Unfreiheit, die Erniedrigung des Hofmeisterlebens, die Borniertheit und den Dünkel des Adels, die Duckmäuserei des Bürgertums, die Grobschlächtigkeit und Brutalität des Garnisonsbetriebs und »den stinkenden Atem des Volkes« erlebt.

Sein »Standpunkt« ist recht konventionell, der des wackeren Aufklärers, der die Verhältnisse zwar nicht umkrempeln, auch die Ständehierarchie nicht antasten, aber doch konkret meliorisierend eingreifen will, also trotz forcierter Stürmer-und-Dränger-Pose immer noch einer konsequenten Wirkungsästhetik verpflichtet bleibt.

Pünktlich zum 250. Geburtstag des Dichters ist nun eine schöne Werkedition erschienen. Der einschränkende Untertitel zeigt aber auch gleich, dass diese Ausgabe sich keinem neuerlich entfachten Lenz-Enthusiasmus verdankt, sondern bloß, dass hier die mittlerweile recht etablierte Lenz-Forschung, unermüdlich angetrieben von Christoph Weiß, die Gelegenheit nutzt, um das Notwendigste nachzuholen: Die zwölf Bände bieten »Faksimiles der Erstausgaben seiner zu Lebzeiten selbständig erschienenen Texte«.

Das ist einerseits wenig genug, denn damit bleibt die große Zahl von Lenz' Publikationen in Zeitschriften gänzlich unberücksichtigt - von dem noch kaum aufgearbeiteten handschriftlichen Nachlass gar nicht zu reden. Die immer noch weithin unterschätzte Prosa fehlt, ebenso die unzähligen Essays und Kritiken und nicht zuletzt die Lyrik, der man einen gewissen Witz nicht absprechen kann: »Lieben, hassen, fürchten, zittern

/ Hoffen, zagen bis ins Mark / Kann das Leben zwar verbittern; / Aber ohne sie wär's Quark!« lautet die letzte Strophe aus dem Lied »An das Herz«. So etwas könnte heute in der Titanic stehen.

Es fehlt in dieser Ausgabe somit Wesentliches, aber sie bietet auch einiges: erstmals eine authentische, also in Interpunktion und Orthografie nicht modernisierte oder normalisierte Textgestalt, noch dazu im originalen Schriftbild. Zudem bekommt man hier einen Eindruck, wie die »Gelehrtenrepublik« den Schriftsteller Lenz seinerzeit wahrnahm; dafür sorgen nicht zuletzt die im Anhang mitgeteilten zeitgenössischen Besprechungen der Texte. Eine Ausgabe sämtlicher Werke, historisch-kritisch, mit vielen gelehrten Anmerkungen versehen, wäre noch schöner gewesen.

Jacob Michael Reinhold Lenz: Werke in zwölf Bänden. Hg. von Christoph Weiß. Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2001. Zus. 2 020 Seiten, DM 398