Heine-Preis für W.G. Sebald

Völlig losgelöst

Die deutsche Literaturgeschichte hat den Luftkrieg unterschlagen, behauptete W.G. Sebald 1997. Als er jetzt in Düsseldorf den Heine-Preis entgegennahm, wurde der Luftkrieg schon wieder vergessen.

Im Jahr 1997 hat der deutsche Schriftsteller und Literaturprofessor W.G. Sebald in Zürich Poetik-Vorlesungen über das bizarre Thema »Luftkrieg und Literatur« gehalten. Er stellte fest, die deutsche Literatur habe das Bombardement deutscher Städte durch die Alliierten nicht thematisiert und daraus resultiere eine folgenschwere Deformation des gesellschaftlichen Bewusstseins. Diese Thesen interessierten bald auch die Kulturressorts der großen Zeitungen. So entstand eine Kontroverse mit prominenter Beteiligung.

Zu Beginn des Jahres 1999 erschienen Sebalds Vorlesungen in einem Buch des Hanser-Verlags und wurden vielfach rezensiert. Im Sommer 2000 erhielt Sebald, der 1944 im Allgäu geboren wurde und der im britischen Norwich lebt und lehrt, mit dem Joseph-Breitbach-Preis die höchstdotierte Literaturauszeichnung Deutschlands. In der vergangenen Woche nahm er in Düsseldorf den ebenfalls nicht unbedeutenden Heinrich-Heine-Preis entgegen.

Sonderbar verlief die Kontroverse, die Sebald mit seiner Behauptung ausgelöst hatte, die deutschen Autoren hätten sich vor einer Befassung mit dem Thema Luftkrieg gedrückt. Es gab zwar viel Widerspruch, allerdings war diese Kritik nicht politisch motiviert. Nicht wenige der Kritiker kramten in Archiven oder in der eigenen Erinnerung und präsentierten bald reihenweise Bücher, Aufsätze oder zumindest Textpassagen, in denen es um den Bombenkrieg geht. Damit konnte man Sebald allerdings nicht beikommen, weil er in seinem Buch bereits eine Reihe solcher Werke angeführt und beinahe allesamt verrissen hatte.

Arno Schmidts Kurzroman »Aus dem Leben eines Fauns« (1953) etwa bezeichnete Sebald als »linguistische Laubsägenarbeit«, den Autor nannte er einen »Hobbybastler«, und er machte auch keinen Hehl aus seiner »Abneigung gegen den demonstrativen Avantgardismus der Schmidtschen Etüde«. Jene Schriftsteller, die den Bombenkrieg im leicht modifizierten Nazi-Code thematisierten, waren Sebalds Fall auch nicht, denn hier vermisste er erst recht, was er bei Schmidt nicht finden konnte: »Das Leben in dem furchtbaren Augenblick seiner Desintegration.«

Andere, von Sebalds Thesen angeregt, befassten sich intensiv mit der universellen Frage nach den Aufgaben der Literatur und kamen nicht selten zu dem Ergebnis, dass Sebald zuviel verlange. Im Spiegel schrieb Dieter Forte: »Wir bilden uns ein, alles aufschreiben und festhalten zu können, um es weiterzugeben. Ich glaube, das ist ein Irrtum.«

Wieder andere befanden, Sebald habe mit seinen Thesen über »Literatur und Luftkrieg« dankenswerterweise an ein Tabu gerührt. FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher griff Sebalds Anregungen auf und stellte zustimmend fest, neben den Flächenbombardements der Alliierten sei auch die Vertreibung der Ostdeutschen durch die Rote Armee nie zum Gegenstand der Literatur gemacht worden. Mittlerweile allerdings, so Schirrmacher, sei es zu spät, dies nachzuholen. Im Spiegel sprach auch Volker Hage von einem »Erzähltabu« und fasste zusammen: »Die Schwierigkeit eben ist: die Deutschen überhaupt als Opfer, etwa in den Luftschutzkellern, darzustellen, ohne im Sinne einer politischen Korrektheit gleich im Nebensatz eine Einschränkung und Relativierung mitzuliefern« - also z.B. den Grund für die alliierten Bombardements anzusprechen.

Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, kann man feststellen, dass selbst die entschiedenen Kritiker Sebalds dessen grundsätzliches Anliegen nicht in Frage stellten. So auch Dieter Forte, der meinte, man könne schreibend nicht alles festhalten: »Sebalds These ist ja nicht falsch, seine Bemühungen sind richtig. Es gibt kaum etwas über den Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung.« Zustimmend zitiert Forte den Brief einer Leserin, die sehr unter den gegen die Deutschen verhängten Denk- und Redeverboten litt: »Das Ausmaß der Einsamkeit, das dadurch entstand, daß viele Fragen nicht gestellt werden durften, daß so viele Themen tabu waren, daß weder in Geschichte noch in Literatur Parallelen gezogen werden durften, dieses Ausmaß an Einsamkeit war schwer zu ertragen. Die Alten starben und ließen unsere Art von Enkeln ziemlich allein zurück.« Allerdings nicht ganz allein: Martin Walser und W.G. Sebald waren noch da.

In politischer Hinsicht sind Walser und Sebald nicht zu vergleichen, in einem Punkt aber ähneln sie sich: Beide geben vor, Tabus und Denkverbote zu brechen, und beide tun es in der Sorge um das Alltagsbewusstsein der Nation. Bei beiden spielt das Motiv der »Demütigung« eine große Rolle. Das Moment der Erniedrigung entdecken Walser und Sebald in dem Verrat der Eliten am eigenen Volk. Während Walser im Oktober 1998 anlässlich seiner Frankfurter Rede kundtat, das Volk sei schutzlos den ständigen, mit Auschwitz und den aktuellen Pogromen gegen Ausländern begründeten Schuldzuweisungen durch »Intellektuelle« ausgesetzt, geht Sebald davon aus, die Deutschen seien bei der psychischen Verarbeitung des Bombenkriegs, »einer nationalen Erniedrigung sondergleichen«, von ihren Schriftstellern allein gelassen worden.

Sebalds Argumentation, deren Details in der Kritik übrigens nie eine große Rolle spielten, geht so: Auf die »einzigartige Vernichtungsaktion« des Strategic Bombing der Alliierten sei der »fraglose Heroismus« des Wiederaufbaus gefolgt. Dieser »richtete die Bevölkerung ausnahmslos auf die Zukunft aus und verpflichtete sie zum Schweigen über das, was ihr widerfahren war«. Wegen einer erstaunlichen Fähigkeit zur »Selbstanästhetisierung« habe der »Vernichtungskrieg« der Alliierten keine »tieferen Verstörungen im Seelenleben der deutschen Nation« hervorgebracht. Die »Stummheit«, mit der die Deutschen seinerzeit in ihren zerstörten Städten herumliefen, »dieses Verschlossen- und Abgewandtsein ist der Grund, weshalb wir so wenig wissen von dem, was die Deutschen gedacht und gesehen haben in dem halben Jahrzehnt zwischen 1942 und 1947. Die Trümmer, unter denen sie lebten, blieben die terra incognita des Krieges.«

An diesem Punkt bringt Sebald das Versagen der Schriftsteller ins Spiel. Die zum Thema produzierten Texte stünden, so Sebald, »sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht in keinem Verhältnis zu den extremen kollektiven Erfahrungen jener Zeit. Die damals, wie man meinen müßte, wahrhaftig nicht zu übersehende und die Physiognomie Deutschlands bis heute bestimmende Tatsache der Zerstörung fast all seiner (...) Städte konstituierte sich in den nach 1945 entstandenen Werken als ein Sich-Ausschweigen, als eine Absenz, die auch für andere Diskursbereiche vom Familiengespräch bis hin zur Geschichtsschreibung bezeichnend ist.«

Deshalb stellt er sich ganz unbefangen die Frage, »warum die brennenden deutschen Städte von niemandem beschrieben worden sind, anders als das große Feuer von London oder der Brand Moskaus.« Insgesamt sei festzustellen, »daß unser Umgang mit den Realien« dieser Zeit nur als »durchgehende Vermeidung oder Verhinderung« zu beschreiben sei, als Tabu also.

Obwohl sich Sebald wie auch Walser in einigen Zeilen ausdrücklich zur Schuld der Deutschen bekennt, wird diese von beiden auf je eigene Art und wohl auch mit unterschiedlichen politischen Absichten relativiert. Der explizite und aktuell Gegenwehr androhende Es-reicht-jetzt-Gestus Walsers ist bei Sebald nicht zu finden. Seine auf Rückschau angelegte Betrachtung historisiert den Bombenkrieg und behandelt ihn als einen isolierten geschichtlichen Abschnitt. Die alliierten Luftangriffe werden so zum beispiellosen Monument einer an den Deutschen verübten Unmenschlichkeit. Gleichzeitig reproduziert die resignative Melancholie des Vortrags auf der ästhetischen Ebene noch einmal das beschriebene, angeblich nie hinterfragte Leid der Deutschen. Dass Sebald sein Anliegen als eines der Literaturkritik bzw. -geschichte vorträgt, verleiht ihm überdies einen Anstrich von Seriosität.

Als Sebald in der letzten Woche als Belohnung für seine »suggestive Prosa«, so die Jury, den Heinrich-Heine-Preis erhielt, vergaß die Laudatorin erstaunlichweise, jenes Werk zu erwähnen, das den Preisträger erst prominent gemacht hat. Die in Brüssel lehrende Professorin Irene Heidelberger-Leonard würdigte zwar ausführlich die übrigen Bücher Sebalds, ersparte sich aber jegliche Bemerkung zu »Luftkrieg und Literatur«.

Hätte sie auch über das Buch gesprochen, wäre es ihr zweifellos schwer gefallen, die folgende Bemerkung anzubringen: »Allerdings nimmt sich Heine neben Sebald geradezu aus wie ein deutscher Patriot.« Es hätte dann eher heißen müssen: Neben Heine nimmt sich Sebald aus wie ein deutscher Idiot.