Duisburger Filmwoche

Guck mal, wer da spricht

Wie verändert sich dokumentarisches Material durch die Montage? Wie echt ist das gesprochene Wort? Ein Bericht von der Duisburger Filmwoche.

In der Fernsehökonomie sind die spektakulären Bilder diejenigen, die Lippenbewegungen zeigen. Seit Bild und Ton synchron aufgenommen werden und das Fernsehen das gesamte Material auch aufzeichnen und zeitlich versetzt senden kann, gelten für die Bewegungsbilder der elektronischen Berichterstattung die Regeln der Authentizität: »Das hat der oder die wirklich gesagt.« Die gesprochene Aussage soll so wahr sein als sei sie gedruckt. Genau darin besteht der Wert des Sprechens, genau deshalb wird es mit so viel Aufwand zum Spektakel gemacht.

Die Duisburger Filmwoche ist ein Festival für Dokumentarfilme aus deutschsprachigen Ländern. Traditionell nimmt man sich viel Zeit zum Gucken der Filme und annähernd so viel, um danach darüber zu sprechen. Und wenn man dieses Jahr zusammenstand oder auf Podien saß, unterhielt man sich vor allem über das Sprechen in Filmen. Sowohl »Aufzeichnungen aus dem Tiefparterre« von Rainer Frimmel als auch »Das Himmler-Projekt« von Romuald Karmakar widmeten sich diesem Thema, indem sie sich mit der Arbeit des Sprechens beschäftigten und sie zu ihrer Funktion als Lieferantin von Echtheit befragten.

Rainer Frimmel lernte den Krankenwagenfahrer Peter Haindl während seines Zivildienstes in einem Wiener Krankenhaus kennen. Auf den Vorschlag Frimmels, einen Film über ihn zu drehen, sagte Haindl, er zeichne sich bereits selbst auf Video auf. Anstatt sich filmen zu lassen, stellte er Frimmel dieses Material zur Verfügung. Frimmel ermutigte Haindl, mit seinem Selbstporträt fortzufahren. »Aufzeichnungen aus dem Tiefparterre« basiert auf diesen Tapes, fünf Stunden Ausgangsmaterial, das auf diese Art im Zeitraum von 1993 bis 1999 zusammengekommen ist.

Frimmel hat es zu seinem 90minütigen Film verdichtet. In vier längeren Sequenzen sieht man den etwa 50jährigen Haindl in seiner Wohnung, wie er ununterbrochen und allein mit der Kamera über Dinge spricht, die ihm wichtig sind. Frimmel fügt dem nichts hinzu und stellt sich auch nicht durch eine kommentierende Montage als Autor in den Vordergrund. Die Einstellungen sind entsprechend lang - die letzte dauert 25 Minuten - und sie sind in der Reihenfolge ihres Entstehens aneinandergefügt. So können Mikroereignisse zu dramaturgischen Höhepunkten werden: das Umstellen der Kamera oder das Absetzen eines Toupets oder Muskelspiele mit nacktem Oberkörper. Zu Beginn einer Suada über Ausländer wird Haindl einmal durch das klingelnde Telefon unterbrochen. Er wimmelt den Anrufer ab: »Ich bin allein, aber in einem wichtigen Gespräch.«

Diese Basement-Tapes riefen heftige Kritik sowie zweifelnde Fragen hervor. Wie verändert sich Haindls Material durch die Begegnung mit Frimmel? Wird aus dem intimen Tagebuch ein nach Öffentlichkeit verlangendes Zeitdokument? Wird Haindl erst durch Frimmel hineingedrängt in diese Bekenntnishaftigkeit, die ihn wie einen Nazi aussehen lässt? Ist der misanthropische Wiener wirklich ein typischer FPÖ-Wähler, der durch seine Selbstauskünfte dingfest gemacht werden kann? Um dann möglicherweise therapiert zu werden?

Die Hauptschwierigkeit solcher Filme, die scheinbar ohne Autor auskommen, scheint die zu sein, dass sie dazu verleiten, nicht die Aufnahme eines Sprechenden, sondern den Sprechenden selbst zu kritisieren, Dargestelltes mit seiner Darstellung zu verwechseln; anstelle des Portraits wurde der Portaitierte kritisiert. Auf Seiten der Zuschauer wurden diese Filme, speziell Frimmels, gerne als Psychogramme gesehen. So ließen sich dann moralische Verdikte begründen. Auf Seiten der Filmemacher machte mehr als einmal der Begriff des »Castings« die Runde, immer wieder ist von interessanten Figuren und spannenden Charakteren die Rede.

Frimmel verweigert sich diesem zynischen Blick auf die Welt. Er verwendet das Found-Footage-Verfahren nicht als Ressource für soziologischen Erkenntnisgewinn, sondern arbeitet daran, die Grenzen des Kinos zu erweitern. Das weist ihn als radikalen Filmemacher aus.

Ein anderer Film mit präzisem Versuchsaufbau ist »Das Himmler-Projekt« von Romuald Karmakar. In einem kleinen Studio positioniert der Regisseur vier Kameras: Eine besetzt in Zentralachse zum Schauspieler Manfred Zapatka den direkten identifizierenden Blick zum Publikum, zwei weitere liefern klassische Perspektiven des kinematografischen Beobachtens, eine zurückgezogene Kamera kommt nur einmal zum Einsatz, um in einer Totalen die gesamte Anordnung sichtbar zu machen. In diesem Arrangement liest Zapatka die berüchtigte Geheimrede vor, die Himmler anlässlich der SS-Gruppenführertagung vom 4. Oktober 1943 in Posen hielt. Das dauert drei Stunden. Von Zeit zu Zeit werden die originalen Publikumsreaktionen per Untertitel eingeblendet. In einem langen Abspann bekommen schließlich alle Teilnehmer ihre Namen, Dienstgrade, Geburts- und Sterbedaten und -orte zugeordnet. Rund zwei Drittel der Anwesenden konnten ihre Karrieren bis weit in die Nachkriegszeit in erfolgreichen Positionen fortsetzen, die meisten von ihnen innerhalb der Bonner Republik.

Die Rede ist von großer Klarsicht, was die Analyse der Kriegslage betrifft. Der Ton, den man beinahe verzweifelt erwartet, um endlich das Bild von Wahn und Grausamkeit bestätigt zu bekommen, will sich nicht einstellen, selbst die Corpsgeist-Rhetorik vermag diese beruhigende Bestätigung nicht zu leisten. Erst in der letzten Dreiviertelstunde, als die Rede in einen gespenstischen megalomanen Science-Fiction-Stil übergeht, um ein Szenario von der Zeit nach dem Endsieg zu zeichnen, wird zumindest die Vorstellung vom Wahnhaften eingelöst.

Dadurch, dass Karmakar seine Inszenierung vollkommen transparent hält, vor allem dadurch, dass Zapatka mehrmals abbrechen muss und man ihn dann sieht, wie er neu ansetzt, wird der Film zum Dokument einer Arbeit am Text, am Sprechen, an Geschichte. Es ist klar, dass die Beobachtung solch einer massiven Arbeit nicht leicht fällt. Mehrere Leute rennen aus dem Saal, um dann in einem Zwischenraum vor dem Eingang zum Kino Platz zu nehmen, in Hörweite, aber immer auf dem Sprung. Die Anstrengung, diesen nackten Bildern zuzuschauen, hat auch damit zu tun, dass die gewünschte Identifikation mit den Opfern hier nicht angeboten wird. Keine Archivfotos, keine Kostümuniform, kein aufgeklebtes Bärtchen, keine Himmlersche Nickelbrille, kein illustrierendes Dekor: Gerade indem er das mittlerweile gängige Bilder- und Symbolmaterial zum Thema nicht zur Verfügung stellt, schneidet Karmakar jeden Fluchtweg ab.

Am Ende des Festivals bekommt »Das Himmler-Projekt« einen der drei Hauptpreise. Bisher konnte Karmakar seinen Film in Deutschland erst drei Mal zeigen: Einmal im Februar auf der Berlinale im Forum-Programm und ein zweites Mal im Oktober auf dem Leipziger Dokfilmfest und nun in Duisburg. In beiden Fällen musste Karmakar im Vorfeld mit mehrseitigen Erklärungen zu (film-) politischen Bedenken Stellung nehmen. Für einen Verleih fehlt es bisher am nötigen Mut.