Gentech-Debatte in der FAZ

Avantgarde spielen

Frank Schirrmacher liest im Buch des Lebens und versteht immer nur DNS.

Man muss die historischen Momente feiern, wie sie fallen: »Gestern morgen um drei Uhr früh schickte Craig Venter uns den unten dokumentierten Datensatz. Er enthält die letzte Sequenz des menschlichen Genoms, die von Venters Unternehmen Celera Genomics entschlüsselt wurde«, meldete wichtigtuerisch die FAZ - und schoss umgehend zurück. Einen Tag später, am 27.

Juli, wurde auf sechs Seiten und mit einer konzeptuellen Beherztheit, die an die besten Tage von Tempo oder des Zeit-Magazins erinnerte, eine Kolonne aus Wörtern mit jeweils sechs Buchstaben als ein Lautgedicht aus A, C, G und T abgedruckt - die letzten Zeilen einer »Grammatik der Biologie«.

Der für das konservative Blatt ungewöhnlich donnernde Auftritt war gut vorbereitet. Artikel, auf die man bis dahin eher in den Rubriken »Technik und Motor«, »Natur und Wissenschaft« oder »Wirtschaft« treffen konnte, rutschen seit Wochen auf die Kulturseiten. Journalistische Formen wie das Interview, die es im Feuilleton bisher fast gar nicht gab, wurden auf einmal genutzt und auf eine Weise ausgebreitet, die völlig aus dem Rahmen fiel. Herausgeber überschlugen sich in Apologien, denen es nie am erhobenen Zeigefinger fehlte: In den USA ist etwas im Gange, da bildet sich an einer neuen Stelle eine intellektuelle Elite heran - und natürlich, in Deutschland merkt das mal wieder kein Mensch.

Zwar hat es im FAZ-Feuilleton immer den tagespolitischen Act gegeben, nun aber wurde in dieser penetranten Tradition ein dramatischer Richtungswechsel zu Sciencefiction und Technoaffirmation eingeleitet. Seit Wochen schlägt man den Lesern nun täglich das neue technophile Credo um die Ohren. Dass das biotechnologische Zeitalter auch an ein Feuilleton neue Anforderungen stellen wird, war schnell zu verstehen. So hieß es Anfang Juni: »Warum die Zukunft uns nicht braucht.« Bill Joys voluminöser Nachdruck aus Wired beschwor eine dystopische Zukunft als von Rechnern und Minimaschinen bestimmte Welt. In seiner Einleitung auf der Titelseite gab sich Frank Schirrmacher ebenfalls kassandrahaft, war in Wirklichkeit aber höchst fasziniert.

Diese nerdy-Begeisterung und Aufgekratztheit ließ erkennen, dass die Kampagne zum Teil auch ein privates Hobby war. Dass ausgerechnet eine konservative Zeitung, die einen oft genug gerade wegen ihres rechten Hautgouts beeindruckt, auf diesen Zug der hysterischen High-Tech-Bejahung aufspringt, wirkt auch deshalb gespenstisch, weil sich hier ein popkultureller Ansatz mit technologischem Totalitarismus mischt. Daneben ist nicht ganz deutlich, was diesen Richtungswechsel bewirkt haben könnte. Vielleicht lag es daran, dass in den letzten Jahren die wertkonservativen und nationalistischen Anteile in der FAZ stark relativiert worden waren. Denn nach dem Kulturkampf-Highlight »Historikerstreit« wurden vergleichbare Gipfel der Unheimlichkeit selten wieder erreicht, mit anderen Worten: Der Abteilung »gefährliches Denken« fehlten lange Zeit die Gegenstände.

Genau genommen hat sich in der FAZ der letzten zwei Jahre sogar einiges in die umgekehrte Richtung bewegt. Die Bildunterschriften und Headlines wurden auf einmal konkurrenzlos witzig mit Wortspielen bis zum Anschlag gespickt, von schwul fielen die Anführungszeichen ab, glasklare Verteidigungen der Homo-Ehe konnten neben scheinheiligen Abweisungen stehen, und selbst der sprachliche Duktus feministischer Theorien zog ein. Es kommt inzwischen sogar vor, dass Rezensenten sich unbefriedigt darüber zeigen, dass sich »Queer Studies« in der deutschen Geisteswissenschaft noch nicht richtig durchgesetzt haben.

Aber selbst in seiner liberalsten Verfassung wollten die FAZ-Kulturseiten nicht nur kritisches Schreiben fördern und schöne Hortensien ziehen, sondern immer nur eines: »Kulturkampf«, die Beleuchtung der Kultur mit dem Flammenwerfer.

Im »Historikerstreit« wurde die historische Singularität des Holocaust relativiert, in der Anti-PC-Debatte der abendländische Kanon verteidigt. Aber das war alles gestern. Heute geht es um die Welt von morgen, die Zukunft und die Behauptung, dass die Hochtechnologien auch das neue Kulturprogramm bestimmen werden. Damit wurde wieder ein riskantes Spiel eröffnet, und die FAZ zeigte sich davon selbst am meisten fasziniert.

Die fundamentale Aussage war nun: Jetzt, da sie im Prinzip entschlüsselt ist, werden die DNS und die sie umgebenden Techniken die Macht übernehmen. An ihrem totalisierenden Einfluss auf die Einsichten und Geschehnisse der nächsten Zeit kann nicht mehr gezweifelt werden. Was die DNS nicht sagt, braucht man auch nicht zu wissen. Zunächst wurde das Erbgut zum Zauberstab für die Erfüllung Tausender Wünsche, Hoffnungen und Möglichkeiten: Krankheiten und Tod werden besiegt, Tragödien abgeschafft, Dinosaurier zu neuem Leben erweckt, und alles denkbar Unerwünschte (Kriminalität, Körperfett, Homosexualität) wird eliminiert. Und das Schöne ist: Kein Staat weit und breit, der darauf seine regulierende und fortschrittshemmende Hand legen würde. Denn in den meisten Zukunftsgebieten ist vor allem die private Wirtschaft aktiv.

Doch selbst diese schon hochgeschraubten Wünsche und Hoffnungen liegen gerade einmal auf den untersten Windungen jener Doppelhelix, deren Weg nach ganz oben schon vorgezeichnet ist. Davon ist die FAZ ebenso überzeugt wie die zwei Vertreteter der neuen »Elite«, die sie jetzt unermüdlich herbeizitiert, der Sun-Mitarbeiter Ray Kurzweil und der Wired-Autor Bill Joy. Mit diesen zwei Namen bindet sich die Zeitung nicht nur an so hochmoderne und zukunftsweisende Einrichtungen wie das Workstation-Unternehmen Sun Microsystems und die hyperaffirmative Westcoast-Computerkultur-Zeitschrift Wired. Mühelos kann man nun auch vor einem banalen Fonds technologisch aufgeladener Faszinationen, Heilslehren und Prophetien hin- und herdriften.

Der feuilletonistische Einstieg in diese Faszinationswelt läuft aber über heimelig nahe liegende Metaphern: Die DNS, sie ist ein Roman. Frank Schirrmacher verwendet nun einige Mühe darauf, die Relevanz seines jähen Richtungswechsels für die Kulturseiten zu belegen. Da Analogien von DNS und Schriftkultur seit langem gebräuchlich sind, ist das nicht besonders schwer. Demnach besteht das Erbgut aus Buchstaben, Wörtern und einer »Grammatik«. In seiner Gesamtheit könnte man es auch als Buch bezeichnen, vielleicht sogar als Buch der Bücher. Wie naiv, eigentlich auch prophetisch, war also »Fahrenheit 451« mit der Schlusswendung, Menschen ein ausgewähltes Buch auswendig lernen und inkorporieren zu lassen. Denn der Nouveau Roman dieses Jahrhunderts wird wahrscheinlich mit einer Schreibmaschine geschrieben, die nur noch vier Tasten hat.

Die Zivilgesellschaft als Sim City der Eliten hat man daher ruhig Peter Sloterdijks Vorträgen überlassen. Denn Menschen-Klonen war gestern. Die FAZ ist aber schon da, wo ihr Herz für Totalität noch höher schlagen kann. Nicht Menschenzüchtung als Endzweck des richtig verstandenen Humanismus, sondern gleich »das Ende des Menschen«. Denn erst da, wo die »Rechtschreibung des Lebens« (Schirrmacher) mit Moores Wachstumsgesetz der Prozessor-Entwicklung zusammentrifft, geht das Leben richtig los. Schon morgen werden die Computer menschliche DNS und ihre Außeneinflüsse simulieren. Und übermorgen verschmilzt das Lebendige in Biochips und Nanobotern mit dem Toten. DNS wird aus effizienteren Elementen konstruiert und kann Informationen auch unabhängig von Körpern und Zellen verarbeiten. So verbindet sich endlich alles mit allem. Das Verhältnis zwischen Mensch, Maschine und Tier wird neu definiert und beliebige Maschinenklassen werden sich jeweils zu neuen Organen, Organismen oder Organisationen verbinden. Und eines ist klar: Es bedürfte einer kühlen Ernst-Jünger-Feinbeschreibung, um sich das Soziale, die Organisation oder Gesellschaft vorzustellen, die aus solchen neuen Verbindungen zu Stande kommt.

Aber auch diese Fähigkeit wäre nur ein Schritt in eine im Grunde schon falsche Richtung. Denn womöglich werden die Forschungslabors und Computer bald zu Studios der neuen Künste, in denen Tragödien, Komödien, Lautgedichte, Romane und Collagen entstehen. Ray Kurzweil fällt dazu in seinem Buch »Homo Sapiens« eine ganze Menge ein: »KUNST [2019]. Von menschlichen Künstlern geschaffene Werke im Bereich der Bildenden Kunst, Musik und Literatur sind normalerweise ein Koprodukt von menschlicher Intelligenz und Maschinenintelligenz.« »KUNST [2029]. In keinem Bereich der Kunst - Musik, darstellende Kunst, Literatur, visuelle Erlebnisse - sind Cyber-Künstler länger darauf angewiesen, sich mit Menschen oder Organisatoren zu assoziieren, denen Menschen angehören. Viele der hervorragendsten Künstler sind Maschinen.« Und sie sind vielleicht so klein, dass zehn ihrer Theater auf die Spitze eines einzigen Nasenhaars passen. Das sind kühne Visionen, was aber haben sie in einem Feuilleton zu suchen?

Unter dem Sciencefiction-Regime sollen sich bürgerliche Selbstverständnisse in einen tiefen Glauben an neue und absehbare Technologien verwandeln. Denn wenn man davon ausgehen muss, dass »der Mensch« ohnehin bald marginal ist, dass alle Probleme dann nur noch auf maschineller Ebene gestellt und gelöst werden, ist die Rolle schwer zu erkennen, die etwa bildende Kunst, Literatur oder Filme beziehungsweise das Schreiben über sie dann noch haben könnten. Die alten Verfeinerungen, Selbstreferenzialitäten und Abstandshaltungen des bürgerlichen Bewusstseins, seine Hinterhalte und angebohrten Subjektkategorien würden dann keinen Zweck mehr erfüllen außer dem, in einem abgesteckten Rahmen zum Spielraum zu werden, der auf spezifische Bedürfnisse eines überflüssig gewordenen Menschen zugeschnitten ist.

Darauf muss das Feuilleton beziehungsweise müssen die »ehemaligen Kulturressorts«, wie Schirrmacher das nennt, reagieren und vorbereiten. Die Bedeutung, die der Spekulation dabei zukommt, drängt in einer rechten Spielart popkultureller Affirmation auch die sozusagen traditionellen Bestände radikal an den Rand. Die Entwicklungen hin zur »Banalisierung« selbst hochkultureller Felder zwischen Event und Sponsoring und die Erosion bürgerlicher Bildungstraditionen, die man seit langem beobachten kann, scheinen die Notwendigkeit eines Wechsels dabei auch von außen nahe zu legen.

In einem neuen System muss es darum gehen, nicht mehr den kritischen Abstand zu pflegen, sondern bewusst und wissend Teil der Verhältnisse und Maschinen zu werden. Schon jetzt kursiert für dieses Denken mit »Neue Ökonomie« ein erstes rudimentäres Synonym, da hier über stock options und allgemeinen Aktienbesitz viele ins Glück eingeschlossen werden. Für Kulturschaffende wiederum besteht die Freiheit nun darin, zu diesem Projekt beizutragen und die neuen Zusammenhänge und Faszinationen zu vermitteln, denn die neuen Picassos und Prousts heißen bekanntlich schon heute Craig Venter und Ray Kurzweil.

Diesen ziemlich weit reichenden Konsequenzen entsprechen die bisherigen FAZ-Ergebnisse zum Glück noch nicht so ganz. Bislang wirkt das alles eher mager und manisch; seit Wochen werden dieselben beiden Namen durchgenudelt: Kurzweil und Joy, Joy und Kurzweil. Dafür fehlt es aber dem Ton von Schirrmachers Texten durchaus nicht an Überheblichkeiten und einem gewissen Sendungsbewusstsein. In einigen Punkten ähnelt ihr Gestus seltsamerweise dem, der in der deutschen Anti-PC-Debatte Anfang der Neunziger herrschte. Dem Selbstbild vom Avantgarde-Status entspricht nämlich auch hier der exklusive Pro-Amerikanismus des nöligen »Da schon längst, hier aber noch nicht«.

Um den Eindruck der Novität nicht zu gefährden, wird übrigens wie selbstverständlich ausgeblendet, was es in Deutschland an Diskussionen zum Thema die ganzen neunziger Jahre hindurch gegeben hat, gerade auch im Kunstbereich. Zieht man selbst die kritischen Versuche, sich mit den Voraussetzungen biotechnologischer Annahmen zu beschäftigen, als vielleicht zu defätistisch ab, dann blieben ja immer noch zahlreiche Projekte, die in ihrer fragwürdigen Faszination dem jetzigen FAZ-Feuilleton in nichts nachstanden, vor allem die Hamburger Ausstellung »Posthuman« von 1993 oder Peter Weibels »Ars Electronica« »Genetische Kunst, künstliches Leben« im Jahr zuvor. Auch Bezugnahmen auf Donna Haraway, deren feministische Aneignungen hochtechnologischer Szenarien auch in diesem Rahmen ausgesprochen gut aufgehoben wären, ließen bislang vergeblich auf sich warten.

Zu hoffen wäre jetzt, dass sich diese Debatte mangels Masse und Schreibern oder aus Überdruss einfach leerläuft. Trotzdem wurde der Pflock ja eingehauen. Womöglich hatte der radikale Vorstoß auch einen noch einfacheren Grund. Die deutliche Vermehrung der Informationskanäle nicht nur durch das Internet zwingt inzwischen auch elegante Tageszeitungen mit einem konservativen Aroma, sich im Kampf um Aufmerksamkeit und Quoten die Rebellenrolle der starken Worte und Taten anzueignen. Noch wahrscheinlicher ist, dass sich wirtschaftliche Notwendigkeiten mit dem auch intellektuell verständlichen Wunsch verschränken, den Ton anzugeben, Debatten anzuzetteln und zukunftsfähige Felder zu besetzen. Denn eines ist ja wohl ganz deutlich: Die FAZ will es jetzt wissen.

Gerade hat man sich im Feuilleton den Weg nach vorne freigeschossen, schon sollen auch die weiter hinten liegenden Territorien neu gesichert werden. So wurde denn jetzt der weite Bogen von der »Rechtschreibung des Lebens« zur Rechtschreibreform gespannt. Die Forderung nach ihrer Aufhebung auch gleich in die Tat umzusetzen, war ein Coup mit absehbarer Wirkung. Es war allerdings schockierend zu sehen, wie umstandlos sich ausgerechnet eine große Masse von Schriftstellern freiwillig vor diesen Karren spannte. Während die da oben nur noch an glatten SF-Stories zu schreiben gedenken, durften die Schriftsteller unten um das alte Holzspielzeug streiten. Die FAZ konnte sich freuen: Sie hatte ihren guten Ruf nach allen Seiten gesichert.