Neues von André Gorz und Jost Müller

Was tun am Feierabend

Die Arbeitsgesellschaft hat frei. André Gorz schlägt Reformen vor. Jost Müller nimmt die Modernisierungstheorie auseinander.

Die Edition Zweite Moderne des Suhrkamp Verlags ist so etwas wie der Mister Minit der Soziologie. Schlüsselkategorien und -titel werden hier, so kündigt es das Verlagsprogramm an, instant zur Verfügung gestellt: die reflexive Modernisierung jenseits von links und rechts in der postnationalen Konstellation - so was in der Art. Anthony Giddens' »Der dritte Weg«, die Formulierungshilfe für die Blairs und Schröders zur Erneuerung der Sozialdemokratie, ist dort erschienen. Und Ulrich Beck, der Herausgeber der Edition, legte kürzlich einen Sammelband über »Die Zukunft von Arbeit und Demokratie« vor. Das Ende der Arbeitsgesellschaft ist hier der willkommene Anlass, die neuen Möglichkeiten vorzustellen: freiwilliges Engagement, Bürgerarbeit und plurale Tätigkeiten. Während Arbeit, wie Joseph Dietzgen es formulierte, »der Heiland der neuen Zeit« in der alten Sozialdemokratie war, wird das Lob der Servilität Leitmotiv für den Konformismus in der Neuen Mitte.

André Gorz stellt sich mit seinem neuen Buch - ebenfalls in der Edition Zweite Moderne - auf den ersten Blick außerhalb des Verantwortungs- und Dienstbarkeitsdiskurses. Arbeit zwischen Misere und Utopie versteht er als einen Beitrag, dessen Horizont nicht die Beseitigung der Funktionsstörung der bestehenden Gesellschaft, sondern deren Überwindung ist. Seine Perspektive ist ein radikaler Reformismus, der Versuch, seine theoretische Reflexion auf die Neubestimmung einer linken Politik revolutionärer Reformen auszurichten.

Gorz' Aufriss der Veränderungen, die gegenwärtig im Kapitalismus auszumachen sind, ist inzwischen weithin gängig: Die Krise und das Ende des fordistischen Normalarbeitsverhältnisses samt der damit verbundenen sozialen und politischen Formen sind sein Ausgangspunkt. Wenn er vom »Ende der Arbeitsgesellschaft« spricht, nimmt er die Beschreibung der Veränderungen wieder auf, die er vor zehn Jahren als »Metamorphosen der Arbeit« in seiner Kritik der ökonomischen Vernunft behandelte. Danach zeigen sich die »Leiden der Gegenwart« - so auch der französische Titel des aktuellen Buchs - in der Ausbreitung deregulierter, prekärer und flexibler Arbeitsverhältnisse, in der Diktatur der Finanzmärkte, im Konkurrenzimperativ der Globalisierung. Gorz beschreibt das alles als Folge einer Gegenoffensive, durchgesetzt als politische Antwort auf die kapitalistische Krise, deren Dynamik Klassenkonflikte und soziale Kämpfe um Befreiung weltweit seit den sechziger Jahren bestimmten.

Für die Sozialgeschichte nach der Niederlage der Kämpfe gegen die fordistische »Arbeitsgesellschaft« zeigt Gorz indes wenig Interesse. Die aktuellen Machtverhältnisse beschreibt er in Verlängerung des einmal ausgemachten Ausgangskonflikts. Die passive Revolution, die Formierung staatlicher und zivilgesellschaftlicher Institutionen mit Tendenzen zum autoritären Populismus, zur Ausbreitung von sozialer Panik, zum Nationalismus und Rassismus kommt dabei nicht in den Blick. Gorz begnügt sich damit, allgemein die Unvereinbarkeit von Autonomie und Heteronomie festzustellen und in der Unterwerfung der individuellen Autonomie unter die heteronome Bestimmung den Widerspruch auszumachen, der über die bestehenden Verhältnisse hinaustreibt.

Die »Arbeitsgesellschaft« sei tot, so Gorz, weil Arbeit - das fordistische Normalarbeitsverhältnis - die Gesellschaft nicht mehr zusammenhält. Das Argument ist tautologisch; und es verkennt die Verhältnisse, die als neue »Normalität« des Postfordismus angesprochen werden müssen: die Prekarität und die Neuzusammensetzung von intellektueller und manueller Arbeit in weltweit vernetzten, automatisierten und informatisierten Produktionsabläufen.

Die Möglichkeit, in ein »Jenseits der Arbeitsgesellschaft« überzutreten, begründet Gorz vor allem ethisch. »Es setzt voraus, dass das Bedürfnis, zu handeln und gesellschaftlich anerkannt zu werden, sich von bezahlter und fremdbestimmter 'Arbeit' unabhängig macht, dass die Arbeit sich aus der Herrschaft des Kapitals befreit und dass die Einzelnen sich von der Beherrschung durch das Kapital emanzipieren, um sich in der Vielfalt ihrer mannigfaltigen Aktivitäten zu entfalten.« Die gesellschaftliche Alternative, die dadurch eröffnet werden soll, nennt Gorz den Bereich der Multiaktivität.

Um einen solchen Bereich der Multiaktivität zu entfalten und zu stützen, schlägt Gorz ein Bündel von politischen Maßnahmen vor: ein bedingungsloses garantiertes Grundeinkommen für alle, die Umverteilung der Arbeit, verbunden mit individueller und kollektiver Zeitsouveränität, und die Weiterentwicklung von Formen alternativer Gesellschaftlichkeit, wie er sie in Kooperations- und Tauschringen angelegt sieht. Ziel dieser Politiken wäre es, »jenseits der Lohnarbeit soziale Bindungen und sozialen Zusammenhalt zu schaffen«.

Gorz' radikaler Reformismus verbleibt damit im Horizont des herrschenden Reformismus, in einer politischen Logik, der es darum geht, »alle gesellschaftlich notwendige Arbeit und den gesamten gesellschaftlich produzierten Reichtum zu verteilen«. Das politische Projekt kappt die Beziehung zu jeder radikalen Bewegung, die seine Beschränkungen von links unter Druck setzt. Die in der Revolte gegen die fordistische »Arbeitsgesellschaft« aufscheinende Befreiung der Nicht-Arbeit, der aufgewiesene Horizont der radikalen Bedürfnisse, gerät in solchen Formulierungen völlig aus dem Blick. Dagegen affirmiert Gorz die stattgefundene Konterrevolution der Kämpfe, wenn er - mit Verweis auf Giddens' Jenseits von Links und Rechts - als ihr Ergebnis hervorhebt, eine Verantwortungs- und Nachhaltigkeitsethik ausgebildet zu haben.

Eine Modernisierungsutopie, wie Gorz sie entwirft, ist ein intellektueller Ausweg, wenn der radikale Reformismus versucht, ohne linke radikale Bewegung auszukommen. Diese Tendenz durchzieht die Geschichte der sozialistischen Linken, und sie ist ein Thema, das Jost Müller in dem ideen- und sozialhistorischen Überblick »Sozialismus« (in der Reihe Rotbuch 3000) untersucht. Müller zeichnet nach, wie der radikale Reformismus - ohne immer dieses Label tragen zu müssen - eine Schlussfolgerung aus den Rückschlägen und Niederlagen der sozialen Kämpfe und der Arbeiterorganisationen ist. In diesem Sinn ließe sich historisch der Revisionismus Bernsteins um 1900, aber auch die Politik der Sozialdemokratie im »Roten Wien« der zwanziger Jahre als radikaler Reformismus auffassen.

Die aktuelle Kritik des radikalen Reformismus entwickelt Müller am Prozess der Institutionalisierung der sozialen Bewegungen in den achtziger Jahren: »Wenn Selbstorganisation und Selbsttätigkeit nicht mehr auf weitere gesellschaftliche Bereiche überspringen, dann wird das gesellschaftsverändernde Potenzial zunehmend ruhiggestellt und schließlich zerstört.« Aus einer Dezentralität und Vielgestaltigkeit der Kämpfe waren alternative Institutionen entstanden, die in der Niederlage der sozialen Bewegungen zum Selbstzweck wurden. Die Institutionen verstärkten die Demobilisierung der Bewegung unter dem Stichwort ihrer Verteidigung und lieferten so Anknüpfungspunkte für die staatliche Vereinnahmung.

Müller zeigt am Beispiel der Grünen und der Entwicklung von NGOs - beide von Gorz positiv hervorgehoben - wie die Einbindung der Institutionen »die demokratische Illusion einer zunehmenden zivilgesellschaftlichen Orientierung herrschender Politik genährt« hat und die gleichzeitige autoritär-staatliche Formierung verdeckt. Das beschränkt nicht nur die kollektive und individuelle Autonomie, sondern reproduziert auch die dominierenden, auf den Staat ausgerichteten Politikmuster.

Den Zusammenhang von (verantwortungs-) ethischer Fundierung der Politik und Fortschrittsideologie hat schon Walter Benjamin in seinen Thesen »Über den Begriff der Geschichte« an der Sozialdemokratie kritisiert. Müller betont noch einen weiteren Aspekt. Er erklärt die im historischen Revisionismus auftretenden Neuorientierungen als Symptome einer Krise der radikalen Kritik und der politischen Praxis gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen: etwa der neuen Organisationsformen des Kapitals, der Zusammensetzung der Arbeiterklasse, der Herausbildung neuer Klassenfraktionen, der Veränderungen der Staatsfunktionen und der Funktionsweise bürgerlicher Politik. Die historische »Katastrophe«, nicht nur des Revisionismus, sondern der gesamten sozialistischen Internationale im Ersten Weltkrieg war die Folge.

Unter aktuellen Vorzeichen wäre es die Kritik der aktuellen Herrschaftsstrategien, die unter dem Namen Globalisierung zwar allgegenwärtig, deshalb aber nicht erklärt sind, die es auszuarbeiten gälte. Die Durchsetzung neuer Muster der kapitalistischen Vergesellschaftung von Produktion und Reproduktion zeigt Müller als Inhalt jener Globalisierung auf. Er unterscheidet fünf grundlegende Tendenzen: die Konzentration und Zentralisation des Kapitals, die Auswirkungen auf die Neuzusammensetzung des Raums hat; die zerstreute Fabrik und die zerstreute Arbeitsorganisation; die Neubestimmung des gesellschaftlichen Wissens; die Prekarisierung und Entwertung der Arbeitskraft; die Entstehung eines neuen Staatstyps mit veränderten ideologischen und politischen, aber auch militärischen und ökonomischen Ordnungsfunktionen.

Die Revolte kommt nicht aus der Theorie. Doch wäre in diesem Sinn die theoretische und praktische Kritik der Globalisierung ein Ansatzpunkt, der herrschenden staatsreformistischen Illusion zu widersprechen.

André Gorz: Arbeit zwischen Misere und Utopie. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2000, 208 S., DM 32

Jost Müller: Sozialismus. Rotbuch, Hamburg 2000, 96 S., DM 14,90