»Auschwitz denken« von Enzo Traverso

Poetik der Zäsur

Enzo Traverso rekonstruiert die frühen Reflexionen jüdischer Intellektueller zur Shoah.

Feuermelder« nannte Walter Benjamin jene Minderheit von Intellektuellen, die noch während des Krieges Alarm schlugen und die Katastrophe aufzuhalten versuchten: Es waren nicht viele, die die Vernichtung der europäischen Juden inmitten der Gräuel des Krieges als eine neue Signatur der Epoche verstanden. Im Rückblick aber erweisen sich ihre Analysen als ungemein scharfsichtig. Diesen Intellektuellen, die die Rolle eines kritischen Gewissens der Gesellschaft übernahmen, hat der Historiker Enzo Traverso, Dozent in Amiens und Paris, eine Hommage eigener Art gewidmet.

In einer behutsamen Rekonstruktion der Analysen von Hannah Arendt, Günther Anders und Theodor W. Adorno sowie der Werke von Paul Celan, Jean Améry und Primo Levi zeigt er, dass schon damals ein Blick auf dieses Ereignis möglich war, mit dem es als Zivilisationsbruch im emphatischen Sinne verstanden werden konnte, als eine historische Zäsur, die, wie Arendt formulierte, nicht nur »die Vorstellungskapazität des Menschen sprengt, sondern auch den Rahmen und die Kategorien, in welchen politisches Denken und politisches Handeln sich vollziehen«. Nach Auschwitz lässt sich nicht mehr unmittelbar an die Aufklärung anknüpfen, der Glaube an den Fortschritt in der Geschichte ist dahin.

Die zutiefst verstörende Einsicht, dass Auschwitz kein Rückfall in die Barbarei vergangener Zeiten darstellte, nicht die Antithese zur modernen technisch-industriellen Zivilisation war, sondern deren verborgenes Gesicht, ihr dialektisches Gegenstück, diese Einsicht ist trotz aller theoretischer Unterschiede die gemeinsame Erkenntnis der »Feuermelder»: Was zerstört worden war, die Versprechen der Aufklärung, die Hoffnung auf eine vernünftige Gesellschaft, »ließ sich nicht wieder herstellen, es war definitiv verloren«.

Dieser Gedanke, das betont Traverso zu Recht, blieb allerdings das Spezifikum einer kleinen Zahl von Intellektuellen. Und es scheint, als habe diese Einsicht eine gemeinsame gesellschaftliche Position zur Voraussetzung: die des Paria-Intellektuellen, der freischwebenden Intelligenz, die im Exil vom Herkunftsland abgeschnitten und in den Aufnahmeländern nur mit Schwierigkeiten integriert, sich ohne Bindungen findet. Diese exilierten deutsch-jüdischen Intellektuellen waren - neben den Opfern - fast die einzigen, die Auschwitz wahrnahmen und zu begreifen versuchten. Ihre Perspektive war die des Paria-Judentums (ein Begriff von Hannah Arendt), einer Minderheit von Staatenlosen, die dem Massaker, das sich in Europa abspielte, entronnen waren.

Der freie und kritische Blick, den dieses Schicksal ermöglichte, hatte allerdings auch seinen Preis: Ihre Gedanken fanden keine Adressaten. Ihre Texte erschienen meist in Emigranten-Zeitschriften und

-verlagen, fanden nur geringe Beachtung und hatten keinerlei Einfluss auf die öffentliche Meinung. In einer Welt der Blinden vermochten sie Auschwitz zwar zu sehen, aber sie selbst blieben politisch unsichtbar.

Es ist nicht so sehr die Entdeckung von Neuem, was die Lektüre der einzelnen Rekonstruktionen lohnend macht, sondern Traversos Art der Darstellung und das Bemühen, daraus einen Begriff von Auschwitz zu kondensieren. Er zeichnet die Analysen und Einsichten seiner Protagonisten behutsam und genau nach, wobei er sich vor allem auf die Gemeinsamkeiten konzentriert. Es ist die Perspektive des »Angelus Novus«, die bei aller theoretischen Unvereinbarkeit der einzelnen Intellektuellen die gemeinsame Erkenntnis von Auschwitz als einem modernen Phänomen ermöglicht. Benjamin hat diesem Bild von Paul Klee in »Über den Begriff der Geschichte« paradigmatische Bedeutung verliehen und mit ihm die Vorstellung von Geschichte als einer Bewegung des Fortschrittes in Frage gestellt.

Wie diesem Engel erscheint auch Traversos Protagonisten die Geschichte als eine unablässige Aufeinanderhäufung von Katastrophen, die nicht aufzuhalten sind. Traversos Ansatz, einen Begriff von Auschwitz über die Rekonstruktion der Positionen dieser Intellektuellen zu finden, ist ein synthetisierender. Er arbeitet das jeweilige Charakteristikum heraus, das der Blick des Angelus Novus seinen Intellektuellen bei der Betrachtung von Auschwitz zeigt.

Auf diese Weise kann er von unterschiedlichen Seiten aus seine These untermauern, dass Auschwitz ein Phänomen war, dass die Grundlagen der Moderne zur Voraussetzung hatte: »Der Genozid an den Juden war eine Anomalie, zu der es im Rahmen einer tragischen Konstellation bestimmter historischer Umstände (Krieg, 'Kreuzzug' gegen das bolschewistische Rußland etc.) kam. Die Methoden aber, mit deren Hilfe er bewerkstelligt wurde - Rationalisierung, Bürokratisierung, Industrialisierung - waren normale Methoden der modernen Gesellschaft.«

Und es war ein singuläres Ereignis, weil es diese Grundlagen unterminierte: »Gleichzeitig aber ist es wahr, dass Auschwitz den Untergang der von der Aufklärung herrührenden Idee einer 'zivilisierten Gesellschaft' markierte. Die Vernichtungslager haben die eigentliche Grundlage der menschlichen Existenz - die Anerkennung der Menschlichkeit des Anderen - radikal in Frage gestellt.« Es ging nicht um Kolonisation, um Versklavung oder um die Eliminierung eines politischen Gegners, sondern die geplante totale Vernichtung war Selbstzweck entgegen aller ökonomischen Rationalität.

Und wenn Auschwitz »neu« und »modern« war, dann ist es auch nicht möglich, von Auschwitz in Metaphern zu sprechen, ohne bei diesem Rückgriff auf die in der kollektiven Phantasie tief verwurzelten Bilder die Einsicht zu kassieren, dass Auschwitz jenseits des bisherigen Erfahrungshorizonts liegt. Traverso zeigt dies mit dem Bild der Hölle, als die Auschwitz oft bezeichnet wird. Die Höllen-Allegorie ist aber immer mit einem Ort der Buße für begangene Sünden konnotiert, sie verweist auf eine übergeordnete richtende Instanz. Die Hölle ist ein Ort des Leidens und Klagens, aber sie ist keine Stätte der Entmenschlichung. Die »Hölle« der Gaskammern aber war eine wissenschaftliche, technische, moderne Hölle, die auf keine transzendente Gerechtigkeit verweist.

Zwei Kleinigkeiten sind anzumerken. Zum einen hätte man sich gewünscht, dass die konzis herausgearbeiteten Positionen nicht nur rekonstruiert, sondern auch in mehr als nur ein paar kursorischen Abschnitten miteinender konfrontiert worden wären, um die theoretischen und methodischen Differenzen zu klären, die zwischen Adorno, Arendt und Anders zweifelsohne bestehen. Zum anderen hätte Traverso der Widersprüchlichkeit des Nationalsozialismus als einem »hochtechnisierten Romantizismus«, der gleichzeitig die Aufklärung verwarf und doch der »wissenschaftlichen« Utopie der Rassenbiologie huldigte, die Zivilisation im Namen der althergebrachten völkischen Werte negierte und gleichzeitig den Bestand der arischen Rasse mit Hilfe der Technik zu sichern versuchte, beikommen können, wenn er ihn mit Moishe Postone als Revolte gegen das Abstrakte begriffen hätte.

Dann wäre es ihm auch möglich gewesen, die Vernichtungslager nicht als »Todesfabriken« zu begreifen und ihnen somit implizit eine ökonomische Rationalität zu unterstellen, sondern sie als Stätten zu verstehen, in denen versucht wurde, das Bedrohliche der Moderne, das Abstrakte, in Gestalt seiner vermeintlichen Träger, der Juden, in grotesker Umkehrung des Rationalitätsprinzips zu exterminieren. Aber das soll den Wert von Traversos Untersuchung keinesfalls schmälern.

Was Traversos Lektüre dieser ersten Ansätze, Auschwitz zu begreifen, auszeichnet, ist das Beharren auf der traurigen Einsicht, dass Auschwitz nicht nur ein Massenmord war, dass es nicht allein die unvorstellbare Menge an Leid war, die Auschwitz als Menetekel erscheinen lässt, sondern dass dieses Ereignis die menschliche Existenz, wie sie von der Aufklärung versprochen wurde, radikal in Frage stellt. Dass er diesen Zweifel in einer Zeit betont, in der Deutschland sich einbildet, mit der Zahlung an die wenigen noch lebenden Opfer des Nationalsozialismus die »Hypothek« dieser Geschichte endgültig getilgt zu haben, ist das große Verdienst von Traverso. Aber es wird ihm ergehen, wie seinen Protagonisten: Hören will das niemand.

Enzo Traverso: Auschwitz denken. Die Intellektuellen und die Shoah. Aus dem Französischen von Helmut Dahmer. Hamburger Edition, Hamburg 2000, 368 S., DM 58