Benjamin Leberts Roman »Crazy« im Kino

Klassenspiel mit Außenseiter

Die Eingangssequenz wirkt wie ein Zitat aus einem deutschen Problemfilm der Siebziger: Der 16jährige, halbseitig gelähmte Benjamin (Robert Stadlober) kommt in Begleitung der Familie in einem schlossähnlichen Internat an. Der Direktor führt durch das prunkvolle Gebäude. Benjamin hat Probleme in der Schule, und dieses Internat ist seine letzte Chance auf einen Schulabschluss. Zum Abschied umarmt die Mutter den Jungen, bevor der auf dem ausladenden Vorplatz zurückbleibt.

Offensichtlich macht sich der Film in den ersten Minuten die Mühe, eine Opferfigur zu etablieren, der im weiteren Verlauf nur noch Schlimmes zustoßen kann. Aber das Gegenteil geschieht. Das Internat im bayerischen Wald steht nicht mehr symbolisch für eine überkommene Vergangenheit, die sich weigert, an einer aufgeklärten Welt teilzuhaben. Ganz im Gegenteil werden hier die Konflikte im Gespräch gelöst und pubertäre Nöte von einer Sexualtherapeutin kuriert. Schnell schrumpft die Bedeutsamkeit des Ortes und wird filmischer Alltag.

Benjamin ist hier wie überall Teil einer Welt, in die er sich nicht wirklich einfügen kann. Er wird getrieben von der Sehnsucht, seine Behinderung bedeutungslos machen zu können. Benjamin will so sein wie alle anderen und denkt, er ist es nicht. Er will so fühlen wie alle und fühlt, er kann es nicht. Er will so funktionieren und merkt, er kann es nicht. Immer wieder sieht er sich nur als Versager und Außenseiter. Der Druck wird so groß, dass er nur noch versagen kann. Nicht vor den anderen, sondern allein vor sich. Behutsam entwickelt der Film eine Kette von Ereignissen, durch die das innere Chaos des Protagonisten in den Mittelpunkt des Geschehens rückt.

Trotzdem verliert sich »Crazy« nicht in lauter Situationen, die allein das psychische Gefängnis eines 16jährigen beschreiben. Er erzählt nach und verdichtet, er skizziert und umschreibt: Die elterliche Ehekrise wird in nur drei knappen, aber stichhaltigen Szenen behandelt. Oder Benjamins Ausflug in ein dörfliches Striplokal. Benjamins vergebliches Werben um die Zuneigung seiner Klassenkameradin Malen (Oona-Devi Liebich) wird zu einer éducation sentimentale. Älter und um einige Erfahrungen reicher geworden, muss er am Ende das Internat wieder verlassen, weil er das Klassenziel nicht erreicht hat.

Regisseur Hans-Christian Schmid hat den Titel des Romans von Benjamin Lebert beibehalten. »Crazy»ist ein Filmtitel, hinter dem man auch eine Teenie-Komödie vermuten könnte. Aber ganz im Gegenteil hat Schmid einen Film gemacht, der sich auf die Erlebniswelt seiner Figuren einlässt. Es ist ein Film über Jugendliche, die nicht besonders verrückt sind, in einer Welt, die keine Spur von verrückt ist. Ganz unaufgeregt geht Schmid mit dem Gefühls-Chaos der Jugendlichen um und zeigt deren manchmal komisches, manchmal hilfloses Ringen um Selbstbehauptung. Mit dieser Erzählhaltung und seinen der Alltagsästhetik verpflichteten Bildern erinnert »Crazy« an das tschechische Kino der sechziger Jahre. Und ähnlich wie die Filme von Milos Forman und Ivan Passer widmet sich Schmid einer Problematik, anstatt den Fehler zu machen, ihr in einem Problemfilm auf den Grund gehen zu wollen.

»Crazy«, D 2000. R: Hans-Christian Schmid. Start 8. Juni