Eiapopeia und Dumdideldum

Ostdeutsche Identitätsklampfer und norddeutsche Heimatgesänge: Nach zehn Jahren Pause gibt es wieder ein »Festival des politischen Lieds«.

Die bots beschwören das weiche Wasser, das den Stein breche. Liederjan säuseln vom Gedanken, der frei sei. Der Oktoberklub gibt zu bedenken, dass es sich lohne, hinter dem wehenden roten Banner zu marschieren, sofern es nur vom Richtigen getragen werde. Und Hannes Wader ruft die Arbeiter zum Kampfe. Doch keine Bange. Es sind nur Filmaufnahmen, die gezeigt werden und die dennoch von den im Saal Anwesenden frenetisch beklatscht werden. »Ach, die bots! Die sind ja so toll!« freut sich überschwänglich eine vor Glückseligkeit fast weinende Frau neben mir.

Wo sind wir hier? Wir befinden uns in einem Jurassic Park für Zupfgitarrenhansel. Um genauer zu sein: beim reanimierten »Festival des politischen Liedes«, das am vergangenen Wochenende zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder stattfand: in der »Wabe«, dem »Kulturhaus im Ernst-Thälmann-Park«. Zeitgleich mit der DDR ging seinerzeit auch die populäre Jubel- und Propagandaveranstaltung zu Grunde, die zwanzig Jahre lang überwiegend schlichtes Liedgut präsentierte, in welchem es vor Frieden und Gerechtigkeit nur so rauschte. Nach dem Beitritt der DDR zur BRD aber war vermutlich nicht nur der Subventionstopf leer, sondern auch der Ofen aus, und es wurde kalt in Deutschland. Das kollektive Absingen von Arbeiterliedern galt plötzlich als nicht mehr ganz so prickelnd. Internationale Solidarität landete im Mülleimer der Geschichte und das FDJ-Hemd wurde in die unterste Schublade gepackt. Stattdessen lief man mit großen Deutschlandfahnen umher, die in der Mitte ein kreisrundes Loch hatten. Das war schick. Den Rest kennt man.

Ein paar Findige aber kamen auf die Idee, den sozialistischen Reigen wieder zu eröffnen. Allerdings, so versicherten die Veranstalter, habe man es beim dieses Jahr wiederbelebten Festival keinesfalls mit einer DDR-Nostalgieveranstaltung zu tun, sondern vielmehr mit einem Forum für das politisch engagierte Lied, bei dem es darum ginge, »Musik mit Politik, Aufklärung und Subversion zusammenzubringen.«

Schon am ersten Tag des Festivals künden jedoch die Verkaufsstände für DDR-Devotionalien vom Gegenteil: Ampelmännchen-Fruchtgummis, »Born in the GDR»-T-Shirts und anderer Ostalgieplunder geben einem schon vor Betreten der »Wabe« einen ersten Vorgeschmack auf das, worauf man sich hier einlässt. Es handelt sich um eine Art FDJ-Gedächtnistreffen.

Nach dem Auftritt des Hanns-Eisler-Chors (»Am Gesteine rauscht die Flut / wer da nicht zu seufzen weiß«), der das Festival eröffnet, gibt der Ex-Oktoberklubber und sozialistische Altbarde Reinhold Andert die Richtung vor. Bevor er die Wandergitarre auspackt und seinen Sack roter Lieder aufschnürt, liest er aus seinem Buch »Rote Wende«, das beschreibt, wie es gewesen wäre, wenn einst die Bundesrepublik an die DDR angeschlossen worden wäre. Nicht die SED, sondern die CDU, so erfahren wir, hätte dann das Anhängsel »PDS« erhalten. Das hieße nämlich dann »Partei der Schmiergelder«. Was haben wir gelacht. Der Saal tobt, denn diese Art biedersinniger und zäher Humor ist den Leuten über die Jahre ans Herz gewachsen.

Beim Auftritt des chilenischen Liedermachers Lautaro Valdez, der spanische Revolutionslieder vorträgt und dabei seine Zuhörerschaft auch zum Mitsingen eines Refrains animiert, wird schließlich einer unruhig: »Wir singen da was mit, was wir gar nicht verstehen. Der soll das mal auf Deutsch singen.« Auf deutsches Liedgut muss der Beschwerdeführer auch nicht lange warten, denn danach ist die norddeutsche Blaskapelle Liederjan an der Reihe, die als Altachtundsechziger-Variante des Musikantenstadels funktioniert und die ihre Verbundenheit zur eigenen Scholle schon vor Jahren unter Beweis gestellt hat: »Unsere Heimat ist der Norden / schwer der Himmel, satt das Grün/ sind hier oben groß geworden / wollen nicht mehr von hier ziehen.« Statt voll im Saft stehendem Heimatkult aber wird hier und heute ersatzweise gespreizter Naturkitsch zum Besten gegeben: »Winter, o Du kalter Freund / (...) Deine Schwester Frühlingszeit bringt das Grün zurück / Lenz, mach Dich bereit.« Hauptsache, Grün.

Die Straßenmusikercombo Milch & Blut hingegen, die angeblich bevorzugt in besetzten Häusern aufspielt, praktiziert straffe Old-School-Agitation in der Tradition von vorgestern: »Seid Karies am Zahn der Zeit/ seid Sand im Getriebe der Welt.« Da rumpelt der revolutionäre Optimismus vergangener Zeiten durch die Verse und die linke Faust in der Jackentasche ballt sich fast automatisch. Und wer sich noch das letzte Quäntchen Restverstand zersingen lassen will, kriegt prompt Nachschlag: »Gib mir wieder die ungelebten Träume/ gib mir her die ungetrübten Seen/ gib zurück die unverschnittenen Bäume.« Da lacht der Biobauer. Schließlich muss heute Abend noch das Authentizitätskonto aufgestockt werden. Das Echte, Wahre, Gute und Schöne muss es schon sein. Wenn es sein muss, auch mit dem Reimlexikon in der Hand. Die Liebe ist eine Himmelsmacht, und entsprechend tief wird sie gefühlt. Sonne und Mond, Licht und Wärme, Klagen und Lächeln, Nordstern und Morgenrot, Rosen und Wein, Sähen und Mähen, Brotbacken und Holzknistern, Eiapopeia und Dumdideldum. Nicht ein Wort ist zu schal, als dass es nicht Eingang finden könnte in den Fluss des Texteinerleis.

Doch immer, wenn man annimmt, man habe es überstanden, kommt's noch schlimmer. Stephan Krawczyk, ein »DDR-Liedermacher«, den der Westen 1988 nichtsahnend aufgenommen hat, kommt auf die Bühne und nölt in holprigen Versen vom Streicheln, Festhalten und Berühren von zarten Leibern: »Halt Dich fest am Haltegriff / dass ich Dich mal streicheln kann.« Das Kleinkind neben mir heult lauthals. Recht hat es. Schließlich aber fasst sich die Mutter ein Herz, nimmt ihren Sprössling an die Hand und geht mit ihm hinaus. Aus seinem neuen Buch rezitierend, entleert der Poet sich weiter. Heraus kommt Wortgekleckse, zu welchem ein Schlagzeuger im Hintergrund schrumpumpelige Freejazz-Rhythmen zusammenschludert. »Steine hüten« heißt das zugehörige Buch. Und steindumm sind die Texte darin.

Hans-Eckardt Wenzel, der auch aus der DDR stammt und sich fatalerweise für talentiert hält, präsentiert in seinen Chansons seine Sammlung abgeschabtester Naturbilder, in denen die Vögel am Abendrot vorbei durch den sich lichtenden Wald fliegen, während der Mond dunkelblau dazu scheint.

Fast alles auf diesem vermeintlich neuen »Festival des politischen Liedes«, das im Grunde noch das alte ist, ist entweder törichter Politkitsch oder Gefühligkeitsmeierei, die überwiegend von Festivalveteranen vorgetragen werden, an denen die musikalische Entwicklung der vergangenen zwanzig Jahre spurlos vorübergegangen sein muss. »Politische Musik« aber, falls es so etwas gibt, dürfte sich eigentlich nur nennen, was seine subversive Substanz auch in der musikalischen Form widerspiegelt. Nicht genug also damit, dass politische Inhalte auf dem Festival, wenn überhaupt, nur in altertümlichster Verpackung geliefert wurden und nicht annähernd in die Struktur der Musik Einzug hielten. Das Zeitalter des Noise, des Feedbacks, des Sampling und der neuen elektronischen Musik ist anscheinend unter den Festivalverantwortlichen noch gar nicht zur Kenntnis genommen worden. Vielleicht sollte ihnen jemand mal einen zeitgemäßen Tonträger vorbeibringen.

Als einziger begriffen hat das Billy Bragg, der zwar einerseits auch als Festival-Veteran gelten darf, zumal er bereits zu Zeiten der DDR dort aufgetreten ist, andererseits aber der einzige Künstler war, dem es bei seinem Auftritt gelang, seinen linken Agit-Folk mit einem entsprechend lärmig-aggressiven Sound-Teppich zu unterlegen. Der durch Punk und Thatcherismus politisierte Streiter wider den Kapitalismus hat nämlich, im Gegensatz zu allen anderen, nicht nur früher The Clash gehört, sondern auch für seine Gitarre eine Steckdose benutzt. Und das ist doch schon mal ein Anfang.