Wolkenkuckucksheim

Er war der Mahner des deutschen Autorenkinos, bei ihm lernten die Bilder schlafen - nun eröffnet Wim Wenders' neuer Film den Berlinale-Wettbewerb.

Irgendwann war der Film alle. Das Material. Und Samuel Fuller, der den Kameramann spielte, sagte: »Auch wenn du Friedrich der Große wärst, das war die letzte Rolle Film.« Es war eine Film-im-Film-Geschichte, ein Essay über das filmische Erzählen. Über Kommerz und Kunst. Über Hollywood. Es war 1981, und der Mann, der hier den Stillstand des Filmemachens belichtete, hieß nicht etwa Friedrich, sondern Wilhelm, genannt Wim. »Der Stand der Dinge«, eine Bilanz, die miserabel ausfällt über das Filmemachen in Amerika, wenn man ein Deutscher ist und von Herzen Autorenfilmer. Die Perspektive war vertauscht: Ein echter Regisseur, der ausgebuffte Sam Fuller (mit der Physis eines erfahrenen Goldschürfers), spielt den Kameramann, als den glücklosen Regisseur lässt Wenders den Schauspieler Patrick Bauchau als sein Quasi-Alter-Ego antreten.

Was »8 1/2« für Federico Fellini oder »Warnung vor einer heiligen Nutte« für Rainer Werner Fassbinder, war für Wenders »Der Stand der Dinge«, eine bittere Abrechnung, Filmemachen am Nullpunkt. Ein kluger Film, zur zeitgenössischen atmosphärisch-politischen Lage. Film als Waffe gegen Vergänglichkeit, Gleichgültigkeit und Opportunismus. Statt zu drehen, sitzt die Crew im Hotel, zwischen Ennui und Debatten.

Auch Wim Wenders' neuester Film spielt in einem Hotel, und zwar im Jahr 2000-noch-was, und präsentiert sich bissig, ironisch und ziemlich verträumt. Wenders' USA- bzw. Hollywoodsehnsucht war ja nie ein Geheimnis - die erste Erfahrung war »Hammet« (1982), wo Zwistigkeiten mit Francis Ford Coppola als Produzent beinahe zum Scheitern des Projekts führten. Heute sieht sich Wenders als Vorreiter von Leuten wie Roland Emmerich, als jemand, der Pionierarbeit geleistet habe. Mit dem Roadmovie »Paris, Texas« erreichte er noch das Publikum. Als er aus den Staaten zurückkehrte, drehte er Filme, in denen die Bilder schlafen lernten, in jedem Fall jedoch die Zuschauer. Betulich, moralisierend forderte er »The End Of Violence« oder märchenonkelte schwülstig vom »Himmel über Berlin« mit Bildern von der Brache am Potsdamer Platz und der Siegessäule, wo damals noch kein »Berlinalepalast« stand, sondern die Rollheimer wohnten.

Ob Wenders nun Kreide gefressen hat oder nicht, sein Film zur Eröffnung der 50. Berlinale, ist seit »Der Stand der Dinge«, der erste Film, der das Format hätte, an dessen Differenziertheit und der Fähigkeit zu abseitigen Träumen anzuknüpfen. Wenders, der keine Gelegenheit ausließ, das Fernsehen als Feind der Menschheit und Zertrümmerer des Kinos anzuprangern, sagt, er habe seine »Berührungsängste« mit dem Medium verloren. Er drehte in der Zwischenzeit Werbespots für die Deutsche Bundesbahn, für Haushaltselektronik und stellt Videoclips her. Auch sein Kameramann kommt aus dieser Branche.

Nach Jahren des Keiner-für-Wim, jetzt Wenders-für-alle? Schließlich war Wenders in den Jahren vor dem dokumentarischen Kuba-Vehikel »Buena Vista Social Club« (900 000 Zuschauer allein in Deutschland), Lieblingsfeind von Cineasten und Kritik. Der neue Film hätte das Zeug dazu, das einzurenken. Was zu allererst an der furiosen Vorstellung liegt, die Jeremy Davies (»Saving Private Ryan«) als Tom Tom gibt. Hibbelig, als würde er auf einer Stromleitung wohnen. Ein Traumtänzer, der sich ausgerechnet das abgewrackte »Million Dollar Hotel« als Wolkenkuckucksheim auserkoren hat.

Wie das Haus, so die Belegschaft. Hier wird gestorben, und so erzählt Tom Tom als plaudernde Off-Stimme aus dem Jenseits, wie alles kam. Warum Eloise, das nicht minder charmant gestörte Mädchen von nebenan seine Traumfrau ist - die er, wenn er sie im Treppenhaus trifft, umtänzelt wie ein bekifftes Seepferdchen.

Milla Jovovich spielt Eloise als bücherverschlingendes Fräulein Sonderbar. Tom Toms Gegenspieler und genüsslich ironischer Gesprächspartner ist Mel Gibson als streng geheimer Cop mit einem futuristischen Stützkorsett, der im Todesfall von Tom Toms Freund Izzy ermittelt. Dieser Sohn eines Medienmoguls, Vollzeit-Junkie und windige Figur, ist der imaginäre Strippenzieher der Handlung.

Unser Mann vom FBI heißt originellerweise Skinner, wie der Chef von Scully und Mulder in der TV-Serie »Akte X«. Wenn man als Regisseur das Fernsehen schon nicht abschaffen kann, dann soll es wenigstens ordentlich persifliert werden. Mit Methode geht Skinner ans Werk und tritt damit eine Lawine von Ereignissen los, die das Leben der Sozialfälle, gestrandeten Existenzen und Lebenskünstler, die das Hotel bevölkern, jäh ins Blitzlicht der medialen Öffentlichkeit bringt.

Im sowieso schon schrillen Haufen fallen durch Wortwitz und Wahn besonders ein durchgeknallter Ire, der sich für den fünften Beatle hält, und Amanda Plummer als Vivien (»Pulp Fiction«, »Butterfly Kiss«), mit zerfurchter Miene und zauseligem schwarzem Haarschopf, auf. Plummer erkennt man erst gar nicht und hofft, dass die Patti-Smith-Halluzination nachlässt. Und urplötzlich landet diese räudige Mischpoke auf der Glamourschiene, schaut in die Abgründe der Kunstwelt und kommt natürlich ins Fernsehen, ähnlich wie in John Waters' »Pecker«. Es ist schlimm, wirklich.

Wenders' Hang zum Lyrisch-Verbrämten ist unübersehbar, aber anders als der Großväterchen-Ton in »Der Himmel über Berlin« ist derlei Pathos abwesend. Edward Hoppers Bilderwelten - Ikonen des amerikanischen City-Blues und der Einsamkeit -, die schon in »Am Ende der Gewalt« als Folie über mancher Einstellung lagen, lassen sich finden, doch ohne Zwang zum Symbolträchtigen. Kameramann Phedon Papamichael rückt den schäbigen Hotel-Kasten in Cinemascope-Format gigantisch ins Bild. Erst wo die Linse aufhört, endet auch die Moloch-gewordene Herberge. Und wer glaubt, das Elend sei im Studio erbaut - das Hotel gibt es in Downtown Los Angeles wirklich. Wenders und seine Crew haben sich im von Uringestank und Marihuana vernebelten sozialen Kriegsgebiet namens »Frontier Hotel« (erbaut 1917 als »Million Dollar Hotel«, den imposanten Schriftzug gibt es noch) selbst eingemietet.

»The Million Dollar Hotel« entstand als Idee von Wenders und Bono von U2, die auch einige Songs beisteuerten. Ursprünglich als Science-Fiction-Streifen geplant, spielt er wenigstens im Jahr 2000-noch-was. Wo es, unter uns gesagt, so aussieht wie heute auch. Die neuen Geschichten sind die alten, es kommt nur darauf an, wer sie erzählt und wie - war das nicht auch schon bei dem guten alten »Blade Runner« so?

»The Million Dollar Hotel«. USA 1999. R: Wim Wenders, D: Jeremy Davies, Milla Jovovich, Mel Gibson Berlinale, Wettbewerb: 9. Februar, 14 und 19.30 Uhr, 10. Februar, 19 und 20 Uhr