Love, Peace und Jobs

Richard Rorty fordert die US-amerikanische Kulturlinke auf, sich auf gewerkschaftlichen Themen zu besinnen

Hinter der sonderbaren Idee, "Achieving Our Country. Leftist Thought in Twentieth-Century America", den Titel des neuen Buches von Richard Rorty, mit "Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus" zu übersetzen und auf dem Umschlag die im Mondwind flatternde US-Fahne samt dazugehörigem Armstrong abzubilden, steckt vermutlich die Spekulation des verantwortlichen Lektors, linkes Denken und noch dazu amerikanisches interessiere doch kein Schwein, solange es sich nicht der Nation von der anderen Seite unsittlich nähert. Rorty hat damit nichts im Sinn.

Zwar heben die fünf Vorlesungen aus den Jahren 1995 bis 1997, die in diesem Band versammelt sind, mit der seltsamen apodiktischen Behauptung an, der Nationalstolz sei für ein Land dasselbe wie die Selbstachtung für den einzelnen Menschen, nämlich "eine notwendige Bedingung der Selbstvervollkommnung" - aber damit hat es sich denn auch. Wer die erste Seite herausreißt, wird mit solchem Gedankengut nicht behelligt, und statt sich zu fragen, ob zuviel Nationalstolz, wie Rorty meint, Aggressivität und Imperialismus erzeugt oder umgekehrt, mag er die Erwägung anstellen, ein Vietnam-Trauma täte vielleicht auch heute gut, wenn es ohne einen Vietnam-Krieg zu haben wäre.

Es geht nicht um exklusive nationale Identitäten, und die Unterstellung oder das Frohlocken, ein weiterer Linker habe seine nationalistische Wende vollzogen, ist nicht zu begründen. Vielmehr möchte Rorty den alten amerikanischen Geburtsmythos wiederbeleben, in der Neuen Welt werde der Traum von politischer Freiheit und sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit nun endlich verwirklicht.

Sein Verhältnis zur amerikanischen Nation ähnelt dem Habermasschen Verfassungspatriotismus. Wer aber darauf beharrt, nicht in der "deliberierenden Bürgergesellschaft" (Habermas) zu leben, sondern im Kapitalismus, und deshalb den gängigen Begriff von Freiheit und Gleichheit für ideologisch hält, muß sich alsbald von Rorty belehren lassen: "Ich meine, wir sollten die Unterscheidung zwischen Linken und Liberalen aufgeben, so gut wie andere Überreste des Marxismus, die unsere Sprache belasten - zu Tode gerittene Wörter wie 'Warencharakter' oder 'Ideologie'". Auch so kann man die politische Biographie manch eines Linken verstehen, der im reifen Alter liberal geworden ist: Anfangs wollte er das gesellschaftliche Übel abschaffen und heute immerhin noch die Begriffe, die es bezeichnen.

Richard Rorty lehrt als Professor of Humanities an der University of Virginia und wurde bekannt durch diverse Publikationen über Sprache und Erkenntnistheorie (u.a. "Philosophy and the Mirror of Nature", "Contingency, Irony and Solidarity"). In den frühen dreißiger Jahren war er ein red diaper baby in New York, ein Säugling in roten Windeln, d.h. seine Eltern engagierten sich in der sozialistischen Bewegung, und in dieser Geisteswelt wuchs er auf. Seine Vorlesungen über die große Zeit der amerikanischen Linken sind deshalb mit allerhand persönlichen Reminiszenzen bebildert.

Rorty beschreibt Walt Whitman, den Dichter der "Leaves of Grass", und John Dewey, den progressiven Pädagogen und Mitbegründer des philosophischen Pragmatismus, als Propheten einer weltlichen "Bürgerreligion": "An die Stelle der herkömmlichen Kenntnis des Willens Gottes wollten sie die Hoffnung auf ein kasten- und klassenloses Amerika setzen. Nicht Gott, sondern ein utopisches Amerika sollte der unbedingte Gegenstand der Sehnsucht sein. Der Kampf für soziale Gerechtigkeit sollte Lebensquell und Seele der Nation sein." Und dieser trotz vieler Rückschläge doch erfolgreiche Kampf habe die erste Hälfte des amerikanischen Jahrhunderts geprägt. Schriftsteller wie Upton Sinclair, John Steinbeck und Theodore Dreiser aktualisierten Abraham Lincolns Rede von Gettysburg für die Industriegesellschaft und inspirierten die Gewerkschaften und die Bürgerrechtsbewegung.

Nun sind allerdings Rortys patriotische achievements im gegenwärtigen Amerika kaum aufzufinden, vielmehr hätten sich Ideal und Realität während der letzten zwei Jahrzehnte immer weiter voneinander entfernt. Vom Durchschnittslohn für Industriearbeiter oder kleine Angestellte könne eine vierköpfige amerikanische Familie, selbst wenn beide Eltern einen regulären Job mit vierzig Wochenstunden haben, "nur unwürdig" leben. Dabei müsse sie "stets vor möglichen Lohnkürzungen und Zurückstufungen und den schrecklichen Folgen auch nur einer kurzen Krankheit zittern". Und weil "von den Kindern des oberen sozioökonomischen Viertels der amerikanischen Familien 1979 viermal so viele einen College-Abschluß erlangten wie aus dem unteren Viertel, heute aber zehnmal so viele", seien in den USA neue "erbliche Klassen" entstanden.

Rorty malt die Vision einer Weltgesellschaft, die von einer superreichen Elite beherrscht wird, während eine privilegierte Schicht gutbezahlter Intellektueller und Spezialisten die ökonomischen Interessen ihrer Herren besorgt, Sozialtechnik treibt und bei den "Proletariern" (nach Rortys Schätzung 75 Prozent der Amerikaner und 95 Prozent der Weltbevölkerung) die Illusion erzeugt, deliberierende Politiker arbeiteten an wirksamen sozialen Reformen.

Was kann man dagegen tun, und wie läßt sich verhindern, daß aus der wirtschaftliche Misere der Arbeiter eine rechte Revolution entsteht - angeführt von Demagogen namens Pat Buchanan oder Ross Perot? Rorty empfiehlt ein Bündnis zwischen der gewerkschaftlichen und der "kulturellen" Linken, und um es zu schmieden, beschwört er beider ruhmreiche Vergangenheit.

Was Rorty die "kulturelle Linke" nennt, entstand während der sechziger Jahre im Protest gegen den Vietnam-Krieg. Viele gebildete junge Amerikaner aus der Mittelklasse empörten sich damals, weil die herrschende Politik den rechten patriotischen Weg verlassen hatte. Zwar bekennt Rorty sich zum kämpferischen Antikommunismus, und der Kalte Krieg ist ihm noch immer heilig. Der Süddeutschen Zeitung verriet er sogar, wenn der Stalinismus zugleich mit dem Faschismus besiegt worden wäre, dann hätte man schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg "über eine globale Ökonomie nachdenken" können. Aber Vietnam war trotzdem ein Fehler und ein Verbrechen.

Rorty teilte die Wut der Studenten über den Krieg in Vietnam, zu dessen Ende sie entscheidend beigetragen hätten. (Wie auch, beiläufig, die Medien. Die militärische Leistung des Vietcong wird in diesem Zusammenhang gemeinhin unterschätzt.) Weil jedoch die protestierende Jugend ihre Einberufungsbescheide zerriß und sich auf dem Campus bei love&peace&pot einen Lenz machte, während sich die Arbeiterklasse im falschen Verständnis dessen, was sie der Nation schuldete, rekrutieren und totschießen ließ, mußten die gewerkschaftliche und die neue Linke einander feind werden. Der Widerspruch verschärfte sich, als die neue Linke beschloß, das ganze kapitalistische System sei verrottet und gehöre abgeschafft.

Die Revolution blieb aus, und die neue wandelte sich zur kulturellen Linken, wich in die Universitäten zurück und strickt seitdem allerhand Theorien. Nun wisse man zwar, was Ethnizität ist oder Gender, und tatsächlich pflege die amerikanische Mittelklasse - zumindest in der Sprache - neuerdings einen halbwegs zivilisierten Umgang mit Frauen, Schwarzen, Homosexuellen und Behinderten. Es sei aber hohe Zeit, daß die kulturelle Linke sich endlich um Mindestlohn und gewerkschaftliche Rechte sorge und einschlägige Gesetzentwürfe vorlege.

Dem Schwachen bleibt wohl nichts übrig, als sich mit dem Ohnmächtigen zu verbünden. Die ökonomischen Gegebenheiten sorgen allerdings für Interessenkonflikte, die ein solches Bündnis sprengen könnten: Wenn der Kampf für eine Verbesserung der sozialen Standards in den USA den Export von Arbeitsplätzen nach Lateinamerika oder Asien bewirkt, werden die Gewerkschaften vermutlich an den Nationalstaat appellieren, er solle für die Seinen sorgen, während die akademische Linke ihrer internationalistischen Illusion treu bleiben wird, auf diese Weise teile der Norden seinen Reichtum mit dem Süden.

Rorty fürchtet, daß "dieses Problem zu den schärfsten Kontroversen innerhalb der amerikanischen Linken des 21. Jahrhunderts führen wird. Ich wünschte, ich hätte ein paar gute Ideen, wie dieses Dilemma gelöst werden kann, aber ich habe keine."

Richard Rorty: Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1999, 167 S., DM 39,80