Hamburger, schulfrei

Getragene Texte und Hemden - Tocotronic stehen am Spielomat und zitieren Foucault

Indie- oder Major-Label? Entlang dieser Frage läßt sich verläßlich, so haben wir's gelernt, die Musikwelt in Gut und Böse einteilen. Dabei wird ohne Ansehen (hier: Anhören) der Musik die Loyalität der Band zu einem Indie-Label als untrügliches Zeichen für Credibility interpretiert, indessen es sich beim Wechsel zu einem Major nur um Hochverrat handeln kann. Das war zu seligen Punk-Zeiten so, und das war in der vergangenen Dekade so, die die Renaissance deutschsprachiger Bands jenseits des Schlagers erlebte.

Noch im letzten Jahr bezogen die Goldenen Zitronen heftig Schelte, weil sie es gewagt hatten, ihre neue Platte bei einem britischen Major herauszubringen. Ohne endgültigen Sieger scheint sich diese Frontstellung in jüngster Zeit jedoch zu verwischen - im Zuge einer für alle Beteiligten komfortablen neuen Unübersichtlichkeit.

So ist man beim Hamburger L'Age d'Or-Label, wo zehn Jahre lang erfolgreich und konkurrenzlos der Mythos "Hamburg" in Eigenregie verwaltet wurde, nun dazu übergegangen, die meisten neuen Platten nur noch an Major-Labels zu lizensieren. Die fordistische Arbeitsteilung sieht vor, daß letztere für "Heavy rotation" beim Vertrieb und auf Viva und MTV sorgen, dieweil das Haus mit seinem guten Namen bei der Presse und in der Szene für Glaubwürdigkeit bürgt. Gar nicht so dumm.

So nimmt denn auch niemand Anstoß, wenn auf dem Presse-Anschreiben zur neuen Tocotronic-Platte das Logo von Universal prangt. Universal ist als Seagram-Tochter Bestandteil des zukünftigen Weltmarktführers in Sachen Musik-Entertainment. Soviel zur Hardware des inzwischen fünften regulären Albums der Band Tocotronic. Dementsprechend ist auch bei der Software einiges im Umbruch und under heavy construction; die Wand zwischen Indiepop und Schweinerock wackelt bedrohlich und ist schon an manchen Stellen eingestürzt.

Der leicht kryptische Titel K.O.O.K. meint etwa soviel wie das militärische Kürzel S.N.A.F.U., sprich: "Situation normal, all fucked up", und karikiert die relaxte Katerstimmung im Jahr eins bis drei nach dem Hamburger-Schule-Hype. Ob er aber das Zeug zum epigrammatischen Slogan und sich verselbständigenden Ausdruck einer Generationenbefindlichkeit hat wie die Vorläufer "Digital ist besser", "Wir kommen um uns zu beschweren" und "Es ist egal, aber", nicht zu vergessen die Single "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein", darf getrost bezweifelt werden.

Wenn nicht, dürfte das wiederum der Band gar nicht so ganz unrecht sein, die es anscheinend eh satt hat, als Sprachrohr ihrer (in Wahrheit eher jüngeren) Altersgenossen gehandelt zu werden. Im Gegensatz zu den meist noch backfischigen Fans haben die Bandmitglieder selbst einigen Abstand zum Cordhosen- und Trainingsjacken-Image gewonnen, für das der Name Tocotronic bisher Synonym war. Sie tragen jetzt schwarze Oberhemden, die nichts und alles verraten. Von den vielbeschworenen "Zusammenhängen", geschweige denn vom "Zusammen-Abhängen" ist auf der neuen Platte nicht mehr viel zu merken.

Insgesamt stehen Tocotronic nach dem Wegfall des Hamburger Definitionsmonopols in Sachen Pop mit deutschen Texten weniger ratlos und verwirrt da als das Gros der Kollegen. Während Blumfeld ihre Richtlinienkompetenz hinsichtlich einer totalen Verkitschung austesten ("Tausend Tränen tief") und die Sterne offenbar jede Orientierung verloren haben (Titel des neuen Albums: "Wo ist hier?"), bleiben sich Dirk von Lowtzow, Jan Müller und Arne Zank in gewisser Weise treu. Als diejenigen, die sich stets noch am eindeutigsten, wenn auch mehrdeutig und uneigentlich, auf die Tradition "guter", "ehrlicher" und "handgemachter" Rockmusik bezogen haben, durchforsten sie jetzt die bislang aus seuchenhygienischen Gründen unter Verschluß gehaltenen Archive des tatsächlich "bösen" Bombast-Rocks der achtziger Jahre.

Die fällige Abrechnung mit dem gottverdammten Genre erfolgt in Form eines verzweifelten Plädoyers für eine Nachspielzeit. "Let There Be Rock!" wird auf der gleichnamigen Single gebettelt, unterlegt mit dem ekligen Synthesizer-Sample aus Europes "The Final Countdown", und sei es auch "nur noch eine Stunde, nur noch einen Tag!" An Häme kaum zu überbieten, ist das vor einer imaginierten Kulisse aus Provinzhölle und Jugendzentrum - der natürlichen Heimat des Schweinerock - gefällte, generöse Statement: "Das haben sich die Jugendlichen selbst aufgebaut."

So souverän, arrogant und gemein gelingt das allerdings nur bei diesem Stück. Die juvenile Idiosynkrasie früherer Platten, der blanke Haß auf Gitarrenhändler, Tanztheater und ähnliche Provokationen des öffentlichen Lebens, ist gewichen und hat kaschierter Boshaftigkeit und schillernden Mehrdeutigkeiten Platz gemacht, überflüssigerweise auch bedeutungs- und unheilschwangerem Raunen. Mit der aufwendig arrangierten und auffällig getragenen Musik gehen getragene Texte einher, in denen sich der ebenfalls Tocotronic-typische Hang zur grüblerischen Befindlichkeitslyrik und Naturmystik eher noch verstärkt.

Allerdings sind auch hier Zwischenböden eingezogen. Eine hochtrabende Textzeile wie "Wenn du lachst, gehen drei Sonnen auf" entpuppt sich im Kontext des Stückes "Jackpot" als harmlose Anspielung auf "Spielomat"-Geldspielautomaten. Trotz allem: Das Areal des Alltäglichen wird von Tocotronic gut bestellt, die neue Platte erweitert die imaginäre Topographie eines provinziellen Landes mit schwierigen Insassen um ein paar notwendige Einträge. Daß dabei neuerdings Foucault - das leidige "Gesicht im Sand" - zitiert wird, muß wohl so sein.

Es paßt auch insofern, als nicht nur die Macht, sondern auch die Ideologie des Rock kein eindeutig lokalisierbares Zentrum aufweist und kein eindeutig identifizierbares Feindbild abgibt. Wie jene durchzieht auch der Rockismus das ganze Land mit seinen unsichtbaren Fäden, nistet in den Köpfen der Menschen und ist hartnäckiger und unberechenbarer als gemeinhin angenommen. Vielleicht ist ja genau das gemeint, wenn es in einem Stück heißt: "Das dunkle Königreich wird nicht mehr aufzuhalten sein."

Vielleicht sollte man aber auch einfach die "Sorge um sich" (Foucault) und das eigene Seelenheil nicht zu sehr übertreiben, sonst sieht man auf einmal ziemlich alt aus. Und das will man ja doch irgendwie auch nicht, schwarze Oberhemden hin oder her.

Tocotronic: K.O.O.K. L'age d'or 1999