Domino im Kanzleramt

Kaum ist das Schröder/Blair-Paket angekommen, sorgen sich die Sozialdemokraten im Kabinett um eine ordentliche Umsetzung des Konzeptes

Wissen Sie, was ein "positiver Dominoeffekt" ist? Nein? Ein "positiver Dominoeffekt", das ist, wenn sie den letzten in einer Reihe von Dominosteinen, die flach auf dem Tisch liegen, anstoßen - und die ganze Reihe steht wieder auf. Probieren Sie's mal aus. Wenn Sie's schaffen, können Sie gleich bei "Menschen, Tiere, Sensationen" anheuern.

In die Sprache der Politik haben den "positiven Dominoeffekt" die sozialdemokratischen Parteiführer Anthony Blair und Gerhard Schröder übersetzt: "So stärken Körperschaftssteuersenkungen die Rentabilität und schaffen Investitionsanreize. Höhere Investitionen wiederum erweitern die Wirtschaftstätigkeit und verstärken das Produktivkapital. Dies trägt zu einem positiven Dominoeffekt bei, durch den Wachstum die Ressourcen vermehrt, die für öffentliche Ausgaben zur Verfügung stehen." Probieren Sie's lieber nicht. Solche Taschenspielertricks erfordern viel Übung.

Die meinen Gerhard Schröder und Anthony Blair zu haben. Sonst würden sie für sich nicht so anspruchsvolle "Ziele sozialdemokratischer Politik" formulieren, wie "den Scheinwiderspruch von Angebots- und Nachfragepolitik zugunsten eines fruchtbaren Miteinanders von mikroökonomischer Flexibilität und makroökomischer Stabilität zu überwinden." Bei gleicher Gelegenheit sollte es doch möglich sein, auch gleich noch den Scheinwiderspruch von Äpfeln und Birnen zugunsten eines fruchtbaren Miteinanders der Heisenbergschen Unschärferelation mit der Heiligen Dreifaltigkeit zu überwinden.

Daß solcherlei intellektuelle Bankrotterklärungen heutzutage bei den Sozialdemokraten aufgeregte Programmdebatten und das einmütige Bekenntnis der Notwendigkeit von Reformen auslösen, daß sie gar vom "Vorschlag" zum "Manifest" befördert werden und nicht zu dem, wo sie eigentlich hingehören - zum Altpapier nämlich -, zeigt, in welchem Zustand die SPD fünfzehn Monate nach Schröders Kür zum Kanzlerkandidaten, neun Monate nach seiner Wahl zum Regierungschef und nur neun Wochen nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden ist.

"Reformen für Deutschland" lautete Schröders Slogan zu Beginn dieses Feldzugs. Oder hieß die Parole "Innovationen für Deutschland" und war von der CDU? Egal. Wenn der Kanzler und sein Intimus Bodo Hombach so weitermachen - und wenn die Partei mitmacht - dann wird die derzeitige Phase bald ein Ende haben, in der die SPD von der Union nicht mehr unterscheidbar ist: Dann werden es nämlich die einstigen Sozialdemokraten sein, die deutlich rechts von der Schäuble-Partei stehen.

Schröders Finanzminister gibt sich schon mal alle Mühe: Auf einen Wink aus dem Kanzlerbunker zog Hans Eichel marodierend durch den Haushalt und grölte: "Brauche 30 Milliarden, Flasche ist leer!" Der geheime Einsatzplan, wo die 30 Milliarden zusammenzuräubern seien, war natürlich in Wirklichkeit direkt aus dem Zentrum der Macht gekommen. Jedes fatale Detail des Eichelschen Raubzugs, das nach und nach ans Licht der Öffentlichkeit drang, war in Schröders Blair-Papier bereits beschrieben.

Der Hesse, der aussieht wie jedermanns Finanzamtsleiter, war der ideale Mann, um den Schröderschen Willen umzusetzen. Getreulich übersetzte er die vom Kanzler verbreiteten Stilblüten in die Sprache der Finanzfachleute. Radebrechen Schröders Ghostwriter "Zugang und Nutzung zu Bildungsmöglichkeiten und lebenslanges Lernen stellen die wichtigste Form der Sicherheit in der modernen Welt dar", wandelt Eichel das Bafög für Studenten wieder in ein Volldarlehen um. "Wo Probleme beim Lesen, Schreiben, Rechnen bestehen", heißt es zwar in dem Papier der Parteichefs ein paar Zeilen weiter, "müssen diese behoben werden." Aber das soll in Zukunft jeder Redenschreiber des Kanzlers selbst bezahlen. Dem Staat kommt, wie es in dem Papier heißt, lediglich "die besondere Aufgabe zu, Anreize zur Bildung von Sparkapital zu setzen, um die Kosten des lebenslangen Lernens zu bestreiten".

Wettern Schröder/Blair in bestem Denglisch gegen "Defizit spending", munkelt man im Hause Eichel schon, der Verkauf von Goldreserven im Wert von zwei Milliarden Mark stehe bevor. Fordert der Kanzler, die sozialen Sicherungssysteme müßten sich "den Veränderungen in der Lebenserwartung, der Familienstruktur und der Rolle der Frauen anpassen" und bezeichnet "moderne Sozialdemokraten" als "Anwälte des Mittelstands", hebt der Finanzminister den monatlichen Familienfreibetrag von bisher 6 900 auf 9 900 Mark an, damit endgültig nur noch die sechs Prozent besserverdienenden 0815-Familien, die auch heute noch FDP wählen, in den Genuß dieser Vergünstigung kommen.

Beschwören die beiden Chef-Sozialdemokraten "ein Sozialsystem, das Initiative und Kreativität fördert und neue Spielräume öffnet", dann versprechen Bonner Sozialpolitiker schon mal, nicht nur bei den Renten, sondern gleich noch bei den Arbeitslosen 1,5 bis 1,8 Milliarden Mark zu sparen. Erklärt Schröder zu seinem Ziel "eine Ausweitung der Chancengleichheit, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Alter oder Behinderung", beschließt seine Regierung, das Sterbegeld zu streichen. Umsonst ist der Tod.

Und die anständigen Sozialdemokraten können nur daneben stehen und es staunend zur Kenntnis nehmen. Die Frage ist ja schließlich nicht mehr, ob das alles sozialdemokratisch-legal ist, denn es ist, so versichert ihnen Eichel nur dieses eine Mal in der Sprache der Industriearbeiterschaft, ganz einfach nötig. Flasche leer, verstehen, Genosse? So belemmert waren die meisten Traditions-Sozis, daß sie sogar nickten, als Schröder verkündete, nach der vernichtenden Niederlage bei der Europa-Wahl müsse sein Kurs jetzt erst recht durchgesetzt werden. Schröder hat den Karren in den Dreck gefahren, werden sich die braven Sozialdemokraten gedacht haben, dann wird er ihn schon auch wieder herausziehen.

Letzte Woche konnte man dann aber doch noch einmal anständig lachen. Das war, als Eichel am Donnerstag - längst bevor alle Details seines Sparplans bekannt waren - verkündete, jetzt habe er soviel eingespart, daß er beim Kindergeld noch 20 Mark drauflegen könne. Noch lustiger wäre es freilich gewesen, wenn er die vollen 30 Milliarden irgendwo anders wieder ins System eingespeist hätte. Warum nicht? Ihre Schuldigkeit, Schröders blödes Papierchen zum Regierungsprogramm zu machen, haben sie getan. Da könnte man sie jetzt doch ganz gut zum Beispiel dem Verteidigungsetat zuschlagen.