Degen hart, Birne weich

Auch Franz Josef Degenhardt hat den großen Wenderoman nicht geschrieben, aber einen praktischen Katalog linker Ansichten zusammengestellt.

Die meisten Leute hassen Franz Josef Degenhardt, weil er Kommunist geblieben ist. Ich hasse ihn, weil ich seinen neuen Roman lesen mußte. "Für ewig und drei Tage" spielt im Ruhrgebiet, auf dem Anwesen der Familie zur Linden, schwerreiche und hochkatholische Leute, die neben Wohn- und Geschäftshäusern, Firmengrundstücken und ähnlichen Liegenschaften auch Beteiligungen an Versicherungen, Banken, Brauereien und Baustoffunternehmen besitzen. An der Börse spekulieren sie aber nicht. Da ist der Alte, Karl-Walter zur Linden, gegen, weil einer seiner Vorfahren um die Jahrhundertwende mit Aktiengeschäften beinahe mal pleite gegangen ist.

Die zur Lindens beherrschen die Kleinstadt und das Umland von der "Lindenburg" aus, wo die Grundstücksverwaltung, ein Baubüro, eine Anwaltskanzlei und eine Arztpraxis untergebracht sind, alles von Familienmitgliedern im Familieninteresse betrieben.

Die Villa liegt übrigens zufällig auf einem Hügel über der Unterstadt. Kruppsche Ausmaße hat dementsprechend Degenhardts Personaltableau: Die Innenseite des Schutzumschlages präsentiert einen Familienstammbaum, der 70 Namen samt der zugehörigen Geburts- und Todestage enthält. Glücklicherweise, denn im Text treten die Handelnden häufig so auf: Anne Catherine "hatte in ihrer Wohnung über der Grundstücksverwaltung mit anderen Verwandten gefrühstückt, unter ihnen Karl-Eberhard zur Linden, Sohn von Berthold junior zur Linden, der aus erster Ehe August-Bertholds zur Lindens stammt, des Alten Cousin, welcher in zweiter Ehe mit der in Konzentrationslagern zu Tode geschundenen Karola Fischler verheiratet gewesen ist".

Anders als an den Krupps hätte Georgi Dimitroff an den zur Lindens seine helle Freude gehabt. Sie sind die überlebenden Gegenstücke zu jener "reaktionärsten, am meisten chauvinistischen und terroristischen" Abteilung des Finanzkapitals (Dimitroff), die seinerzeit Hitler an die Macht brachte. Die Lindenburg war zwischen 1933 und 1945 ein katholisches Widerstandsnest, zur Tarnung wehte eine Hakenkreuzflagge vom Turm, während die entlegenen Räume der weitläufigen Behausung als "Anlaufstelle für die Illegalen zwischen Rhein und Ruhr und Leute von der belgischen Résistance" dienten.

Von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, sind die zur Lindens ihrer antifaschistischen Gesinnung treu geblieben und pflegen heute "Katholizismus und Vielweiberei, Seminarmarxismus und kapitalistische Praxis, plebejische Vorlieben und großbürgerliche Lebensweise, Engagement für Depravierte, Asylanten, Antifas, geschlagene Frauen und Kinder und für Vermieterhaie, Bänker, Koofmichs, White-collar-Verbrecher der schlimmsten Sorte". Lisa, eine Freundin der künftigen Clan-Chefin Anne Catherine, versteht nicht, wie "man das alles unter einen Hut kriegen kann", aber sie ist auch Sozialarbeiterin und hat von Pop keine Ahnung.

Es ist der August 1991, in Moskau wird gerade geputscht, und in ein paar Tagen feiert der Familienpatriarch Karl-Walter zur Linden, der schwere Krankheiten, einige Mordversuche und die Folterkeller der Gestapo überlebt hat, seinen 95. Geburtstag. Zu Beginn der Handlung "kriegt" dessen Sohn Hans-Walter zur Linden, genannt "Hawa", um die 60 und Chef der Familien-AG, zunächst "einen Ständer", als er morgens auf dem Balkon steht und an die Bombennächte des Krieges denkt, und wenig später, bei der Morgentoilette, "einen Steifen", als er von Edith Maruschke träumt, "ihrem Farnkraut-Geruch, ihren wilden geilen Ritten". Danach treten - während die Vorbereitungen für das große Fest anlaufen - die anderen Familienmitglieder auf.

Hawas Tochter Anne-Catherine ist lesbisch und hat früher in WGs mit 68er-Kommunisten zusammengelebt. Hawas Schwester Annette war bei der RAF und lange in Ostberlin abgetaucht; nun säuft sie billigen Rotwein und schaut unentwegt im Fernsehen dem fehlgeschlagenen Putsch in Moskau zu, mit Wut und Wehmut, weil nun "die weltweite Alleinherrschaft des Imperialismus auf unabsehbare Zeit" anbricht. Hawas Bruder Jochen ist Steuerexperte des Clans sowie Alkoholiker und stellt - mit Vorliebe in Mexico City oder San Francisco - schwarzhaarigen Jungs nach. Hawas Sohn Martin ist "Reiseschriftsteller", hat allerdings noch nie etwas veröffentlicht, weil er beispielsweise lieber "im Segelflugzeug als Lover einer Star-Moderatorin den australischen Kontinent durchquert". Hawas Cousin Paulus ist Antisemit, Esoteriker, Ökologe, "militanter Vegetarier" und "in eigenartigem Kontrast dazu" Vorstandsmitglied im Verband für das deutsche Hundewesen e.V.

Hawas Sohn Andy hat eine "inzestuöse Affäre" mit seiner Nichte Laure, "sie taten es, wo immer sie sich trafen, in der Regel sofort und egal, wo und wie, einmal sogar im Beichtstuhl einer Dorfkirche in den Ardennen, ein andermal in einem Aachener Kaufhaus auf dem Klo". Der angeheiratete Onkel Ludwig war SS-Sturmbannführer und Kriegsverbrecher, entkam über die Vatikan-Rattenlinie nach Argentinien und wurde als Fleischexporteur und im kolumbianischen Drogenbusiness aktiv, bevor er sich als Rentier in die USA zurückzog. Der Patriarch, der Alte, hat ein Faible für Lenin und die Beatles.

Zustande gekommen im demonstrativen Bemühen um das Schrille und das Grelle, soll dieses Tableau maßlose Lebensnähe abstrahlen. "Süchte und Laster" verspricht die imposante Besetzungsliste, aber da die Personen lediglich als steckbriefformatierte Träger gesellschaftshistorischer Sachverhalte und Identitäten auftreten, strandet das Ganze auf dem Niveau einer x-beliebigen Frühabend-Soap. Vom bloßen Aufmarsch der Charaktermasken ist der Aufbau-Verlag so begeistert, daß er im Klappentext die Langeweile auch noch überschwenglich ankündigt: "Es kommt, was kommen muß. Intrigen werden gesponnen, Feindschaften begründet oder begraben, Liebschaften begonnen oder beendet, Geschäfte gemacht und Beziehungen ausgenutzt."

Die böhmischen Streicher, die auf Wunsch des Alten während des Geburtstagsbanketts Beatles-Stücke intonieren, haben das noch prägnanter formuliert: "Obladi, oblada, life goes on, babe."

Überhaupt, der Tag der Tage, die Geburtstagsfeier: Die ehemalige Militante Annette schneidet sich die Pulsadern auf; Hawa erwischt seine Frau beim Stelldichein mit ihrem Assistenzarzt, "das Hemd steckte nur teilweise in Grabowskis Hose, und Marie-Annes Kittel war kaum und dazu falsch geknöpft"; der Reiseschriftsteller spritzt sich eine Überdosis Heroin und bricht beim Rendezvous mit seiner Schwägerin zusammen; im Durchgang zum Zunftgebäude verführt Großtante Gabriele den 14jährigen Neffen David zu einer nach Auskunft der elfjährigen Cousine Astrid "rasanten Vögelei".

Während des Abendessens erscheint die Klosternovizin Bärbel blutverschmiert auf der Galerie und zeigt "die Wundmale des Herrn"; durch Berührung der Verletzungen wird Tante Josephine von ihrer schweren Gehbehinderung geheilt und wirft die Krücken weg; Onkel Jochen erleidet einen Herzanfall, nach Auskunft der Lokalpresse findet man ihn im Laufstall mit "offener Hose und heraushängendem Geschlechtsteil"; später, während der Polonaise, zeigt Fernsehmoderator Eike sein "blaugeädertes Ding" unter "hochgezogenem Hawaii-Hemd". Mitten im bunten Treiben verliebt sich das 95jährige Geburtstagskind ernstlich in "eine japanisch aussehende Schwedin" von der Security, die an seine Seite beordert worden war, weil zuvor per Post Morddrohungen gegen den Senior eingegangen waren. Am Schluß der Feier brennt - wegen eines fehlgezündeten Feuerwerkskörpers - das halbe Anwesen der zur Lindens ab.

So endet, was Degenhardt als Groteske auf Augenhöhe mit der Postmoderne angelegt hat, in einem mühsam vorbereiteten Finale, das gar keines ist, weil der Lauf der Dinge in den Neunzigern große Augenblicke gar nicht vorsieht. Auch ist der aktuelle Pop weder in Musik noch Literatur auf Höhepunkte zugeschnitten. Degenhardt bestätigt diese Regel ungewollt im Wirbel der finalen Abgedrehtheiten, die doch nichts anderes vermögen, als die zuvor konstruierten sozialen Identitäten seiner Figuren noch einmal blöde zu duplizieren. Manche Pop-Erzählungen verwandeln durch eine Lakonie des Details den ganz normalen Alltag in ein Ensemble bizarrer Erlebnisse.

In der angestrengten Unaufgeregtheit seiner Erzählung scheint auf, daß dies Degenhardts Maßstab ist und der seines Scheiterns. Das Schrille entwickelt sich nicht, es ist immer schon vom Beobachter arrangiert, etwa in den Erlebnissen, von denen der "Reiseschriftsteller" berichtet: "Die drei Tage und drei Nächte dauernde Billardschlacht im flandrischen Kortrijk etwa, die ein elfjähriges Mädchen aus Surinam gewann, oder die Reise von Stalingrad nach Astrachan auf einem Luftkissenschiff voller Fabrikarbeiterinnen, die schöner sangen als jener Chor schwarzer Baptistinnen aus Baton Rouge im Mississippidelta."

In ihrem drastischen Mißlingen passen die Pop-Elemente in ein Gesamtarrangement, das beinahe den Verdacht nährt, hier habe wieder einmal jemand vergeblich versucht, den von der Literaturkritik energisch eingeforderten großen Wenderoman zu verfassen. Vom Verlag als "großangelegtes Zeitpanorama" angekündigt, ist ein Katalog von linken Bekenntnissen entstanden, der auch ein bißchen mit der deutschen Geschichte abrechnet. Die ehemalige Terroristin etwa läßt Degenhardt sagen, "der Antisemitismus sei überhaupt nicht erledigt, das sei eben auch eines der Ergebnisse der sogenannten Wiedervereinigung, bald werde er sich auch wieder ganz offen und demonstrativ zeigen". Deutschland, so Hawa zusammenfassend, sei überhaupt ein "Land schlimmster Verbrechen, ewiger Wenden, Verrate, Denunziationen, kleiner Heldentaten und mieser Arschkriechereien".

Auch die wichtigen Themen der linken Diskursgeschichte kommen vor, etwa wenn Degenhardt ausführlich schildert, wie in der Ostberliner Exil-Wohnung der ehemaligen Rafgardistin DDR-Intellektuelle und -Parteikader nächtelang über das "Kommunistische Manifest", das "Problem des Warenwerts" bei Marx oder dessen "Interpretation des Gebrauchswertes" streiten. So wird im Verlaufe der Erzählung ein ganzes Sortiment fertiger Ansichten ausgestellt. Munter parliert der bischöfliche Generalvikar über den "sozialdarwinistischen, ganz und gar habgierorientierten, heidnischen Neoliberalismus", der eine "formaldemokratische Variante des Faschismus" sei. Daß es der Generalvikar sagt, ist wieder Degenhardt-Pop, was er sagt, ist Peter Weiss minus Poesie und Verstand. Man muß die Leute halt da abholen, wo sie stehen.

In einem Punkt allerdings läßt der Autor Verqueres nicht zu. An einem Abend vor der großen Geburtstagsfeier fahren Hawas Sohn Andy und der Reiseschriftsteller hinunter ins Nordstadt-Viertel, "Kumpelfolklore schnuppern", wie früher. Aber in Erwin Zibullas Kneipe steht nun "eine Dame" hinterm Tresen, und Alfons Auermann, "Frührentner, typischer Eckenpisser", findet man nur deshalb noch in der alten Ruhrpott-Kneipe "Hinterm Mäuerken", weil diese ins Programm der alternativen historischen Stadtrundfahrt aufgenommen wurde.

Das Schlimmste aber spielt sich im "Alten Krug" ab. Vor dem Dartautomaten "fläzt" sich "eine dieser Cliquen: Der Aber-immer-öfter-Kerl mit dem Hund aus der Werbung für Clausthaler, der Vertreter der Hamburg-Mannheimer, die Frau, deren Gläser im falschen Geschirrspüler nie klar werden, die rassige Tussi, welche ihrem zu spät kommenden Lover, einem Mercedesfahrer, eine knallt, der Capuccino-Italiener - und noch ein paar von dieser Sorte".

Wie reagiert ein Kulturkritiker aus der Oberstadt auf diese Arschgesichter? "Widerwärtig", sagt Andy, "tatsächlich."

Franz Josef Degenhardt: Für ewig und drei Tage. Aufbau Verlag, Berlin 1999, 352 S., DM 38