Serbe oder Nicht-Sein

"Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg": Peter Handkes Welttheater sucht das Heil in der Volksgemeinschaft

"Es muß gezeigt werden, daß schon der erste Blick des Zuschauers gelenkt ist", schrieb der Bewohner des Elfenbeinturms, als dieser Turm noch zwischen den Fronten des Kalten Kriegs, zwischen der rechten Springer-Presse und der linken Literatur stand. Peter Handke entwickelte dabei ein idiosynkratisch ausgeprägtes Sensorium für die Funktionsweise der Massenmedien wie der sprachlichen Konventionen.

Mit den französischen Dekonstrukteuren hatte er den gemeinsamen Nenner, über den gemeinsamen Nenner der Gesellschaft, die jene Funktionsweisen hervorbringt, zu schweigen: über die reale Abstraktion des Kapitals. Sein Elfenbeinturm stand eben ursprünglich in Österreich, auf neutralem Boden, wo man zwar vom Klassenkampf wußte, da er doch die Verteilung des Wohlstands regelte, nichts aber von der Form dieses Wohlstands. Nach Österreich, Heimatland des Positivismus, drang kaum je ein Gedanke der Kritischen Theorie.

Heute ist diese Idylle zerstört. Wie die Neutralität Österreichs ihr Ablaufdatum längst überschritten hat, so ist auch Handkes Niemandsland zwischen den Fronten bereits kassiert. Den Elfenbeinturm verlassend sieht er sich mit einer Front von Journalisten und Intellektuellen konfrontiert, die ihn als Popanz benötigt, um im Feuilleton den Krieg führen zu können.

Noch immer zeigt Handke, daß die Blicke gelenkt werden, und der Krieg gibt ihm reichlich Gelegenheit. In seinem neuen Stück "Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg", ursprünglich auf den Bosnien-Konflikt bezogen, entdeckt er frappierende Projektionsmechanismen: "Ö ich habe auch das ganze Volk hier und alle hiesigen Völker von Anfang an gehaßt, so, wie bis zum Ausbruch des Krieges, höchstens mich selber - nein, anders als mich selber, fragloser, freiheraus, meinen alten Selbsthaß endlich los!" - so sagt einer der drei INTERNATIONALEN - und erhält vom einheimischen WALDLÄUFER Bestätigung: "An unserer Zerfallenheit könnt ihr die eure sehen."

Die beiden Regisseure aus den USA und Spanien, vor denen die Einheimischen und die Internationalen wie Allegorien aus einem Hofmannsthalschen Welttheater auftreten, sehen diese Zerfallenheit tatsächlich und brechen darum den Versuch ab, den geplanten Film zum Krieg zu drehen: "(...) es gibt keine Gesellschaft mehr. Die Gesellschaft zerfällt mehr und mehr in Horden. Und diese gebärden sich um so hordenhafter, je stärker die Lüge von der Gesellschaft und Gemeinschaft weitergeistert (Ö). Es ist die Zeit nach den letzten Tagen der Menschheit."

Anders als das Weltkriegsdrama von Karl Kraus, auf das hier angespielt wird, sucht Handke jedoch sein Heil in Ontologisierung und Nation: Umdeutung des Endes von Geschichte und Gesellschaft in den Ursprung einer Gemeinschaft - dies meint die "Fahrt im Einbaum", wie der GRIECHE (ein Ex-Journalist) und die FELLFRAU offenbaren. Mit ihren Traumbildern projiziert Handke seinen Begriff von echter Heimat und wahrem Sein ins Kriegsgebiet. Einer stört die Einbaum-Fahrt und fragt "im Tonfall der Internationalen": "Ist im Halbschlaf nicht jeder allein?" - "Nein, du Ignorant: An dieser Grenze existiert noch ein Wir wie sonst nirgends mehr." Als Wir entpuppt sich das serbische Volk: "Wenn heute noch Volk, dann ein tragisches. Und das hier ist ein tragisches Volk. Und mein Platz ist beim tragischen Volk."

Vor diesem tragischen Volk und erlösenden Wir erhält die Darstellung der Internationalen die üblen Konturen einer Weltverschwörung, wie der Antisemitismus sie vorgezeichnet hat: "Ihr habt leicht reden", sagt der GRIECHE zu den INTERNATIONALEN, "habt nie ein Land im Sinn gehabt (Ö). Ihr aber seid Kadaverschweine (Ö) inexistente, formlose Unheilanrichter (Ö). Und während die kleinen Völker hier sich um Erdbrocken stritten, bemächtigtet ihr euch der Welt."

Weil er sich nie die Mühe machte, die abstrakte Herrschaft des Kapitals zu begreifen, ist Handke, sobald er in Wut gerät - was verständlich ist angesichts der Medienberichterstattung über diesen Krieg -, sofort bereit, sie zu personifizieren. Und nicht nur alle Erkenntnisse, die ihn in seinem neuen Theaterstück dem Begriff dieser Herrschaft näher bringen konnten - etwa der Gedanke, daß "Ungleichzeitigkeit" zwischen den Bevölkerungsgruppen dem Krieg zugrunde liege -, verschwinden im Sog der wahnhaften Personifikation, sondern auch die Frage nach den besonderen deutschen Interessen. Sie wird immerhin gestellt, wenn die Fälschung eines serbischen "KZ" in einer plötzlichen Eingebung wirklich durchschaut wird - als "späte Rache derer, die für das Urbild verantwortlich sind".

Peter Handke: Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1999, 140 S., DM 28