Jugendprotest 2000

Toni Negri back in town: Die "immateriellen Arbeiter" sind die Werktätigen der Faulheit.

Hallo, die "Berliner Republik" ist da. Wohin gehen wir nach der Besichtigung der Rogers-Kuppel im Reichstag - zu mir oder zu dir?

Die Killervögel sind wieder unterwegs. Mit ihren langen Federschwänzen gleiten Elsternpaare über Daimler City am Potsdamer Platz, navigieren, sobald sie ein Nest im Stahlgerippe des Sony Towers entdeckt haben, pfeilschnell ihre Beute an, fressen die Eier und killen die Jungvögel. In den Wasserwerken Neukölln duschen die Arbeiter nackt und bei geöffneten Fenstern. Genau gegenüber liegt der Frauenknast.

Okay, es ist Sommer. Wir setzen uns in Kreuzberg oder Prenzlauer Berg auf die morschen Balkone, rücken die Sessel aus der Sonne, gießen die Blumen und lesen ein gutes Buch. Wir, das ist die Klasse der Selbstfinanzierten, das sind die Künstler und Pop-Intellektuellen, die Muttersöhnchen, 630-Mark-McJobber und all die anderen Werktätigen der Faulheit, schlicht die diskursiven Langzeitarbeitslosen. Ein imaginärer Schaltkreis stillgelegter Arbeit durchzieht die Stadt und steuert unsere sozialen Prozesse. Scheinbar dem Reproduktionszyklus entzogen, produzieren wir, die "immateriellen Arbeiter", eine neue materielle Ressource, die Subjektivität. Also wohin - zu mir oder zu dir?

Die klassische Lohnarbeit, bei der der Arbeiter seine Arbeitskraft genau gegen die Waren eintauscht, die er produziert, gleitet stetig über in die "immaterielle Arbeit" - ein dramatischer, mit politischen Chancen, aber auch sozialen Risiken behafteter Vorgang, der von einem neuen Lumpenproletariat ausgeht, den diskursiven Langzeitarbeitslosen.

"Immaterielle Arbeit", lesen wir in dem Buch von Maurizio Lazzarato, Toni Negri und Paolo Virni, zielt keineswegs auf das Verschwinden der Lohnarbeit, sondern auf deren Transformation unter den Produktionsbedingungen der postindustriellen (oder postfordistischen) Gesellschaft, denn dem Kapital geht es nach wie vor darum, Verluste zu vergesellschaften und Gewinne zu privatisieren.

Tayloristische Arbeitsteilung, fordistische Lohnpolitik und Fließbandproduktion sowie keynesianischer Wohlfahrtsstaat bröckeln seit zirka 20 Jahren kontinuierlich ab. Die zu Zeiten der Vollbeschäftigung abgefederte "soziale Frage" taucht ungeschminkt wieder auf: Risse im sozialen Netz, Krise des Urbanen, Arbeitslosigkeit, Massenarmut. Die physische Lohnarbeit hat sich gewandelt zu einer Ökonomie der Information, deren Hauptressource die "immaterielle Arbeit" wurde. Der abzuschöpfende Mehrwert wird nicht mehr in der Fließbandproduktion erwirtschaftet, sondern im Bereich einer globalen Finanz- und Kommunikationsdienstleistung, weshalb die Fertigkeiten im Umgang mit Information und Kultur die klassische Handarbeit ablösen.

Je komplexer, globaler und kollektiver die Produktion, desto bestimmender wird die durch informationelle, kulturelle und sprachliche Fertigkeiten gekennzeichnete Organisation als Maßstab des Reichtums. Lazzarato spricht davon, daß "die Seele der Beschäftigten zum Teil des Unternehmens" geworden sei. Nicht mehr die Physis, die Subjektivität rückt in die Verfügungsgewalt der Ausbeutung. "Immaterielle Arbeit" ist folglich die Fähigkeit, produktive Kooperationen in Gang zu setzen und neue Mehrwert-Abschöpfungen zu generieren.

Dafür liefern die diskursiven Langzeitarbeitslosen die passenden Bilder und Begriffe: Interface, Schnittstelle, Crossover, kollektive Produktion. Die "kulturelle" Aufwertung der Waren (Mode, Geschmack, Einflußnahme auf Konsumgewohnheiten und die öffentliche Meinung) besorgen Künstler und Intellektuelle, die bei der Ausschüttung der Dividende allerdings zumeist leer ausgehen (ausgenommen die Organisatoren dieses Prozesses, d.h. jene zahlreichen, im Crossover-Zeitgeist agierenden Dr. Mottes, die ihre eigene Subjektivität ausbeuten).

Etwa Mitte der Neunziger, parallel zur Repatrisierungs-Politik im Zuge der "Wiedervereinigung", die in der Bezeichnung "Generation Berlin" gipfelt - das Label eines mündig-unmündigen Ost-West-Mutanten -, wurde auch eine neue Jugendbewegung, Techno, diskursdominant, ja mehr noch, Teil der Alltagskultur. Die Love Parade überschritt explosionsartig die Millionengrenze und ist seitdem unaufhaltsam auf Expansionskurs im Feld des Mikropolitischen, z.B. in der Berliner S-Bahn.

Am Tage der Love Parade, dieses Karnevals der sächsischen und thüringischen Jugendkulturen, mischen sich in den Berliner S-Bahnen Körper- und Sprachpolitiken der euphorisierten Raver zu einer folkloristischen Protestform, die nach einer Signatur im Alltagsleben begehrt. Die Beats von Westbam, die aus den transportablen Hochleistungs-CD-Playern wummern, verwandeln den Waggon in eine revolutionäre Einzelzelle. Kaum steigen in der Papestraße Polizisten ein, zünden sich die Kids eine Zigarette an. "Rauchen verboten", maulen die Bullen. "Tschuldigung", rufen die Raver und drücken ihre Kippen auf den Sitzen aus. Jugendprotest 2000.

Bezogen auf die kleine Enklave des Gegenkulturellen, wo die kreativen Langzeitarbeitslosen ihre "immaterielle Arbeit" verrichten und die stets die frühen Avantgarden zur Legitimation des Counter-Culture-Anspruchs herbeibemühen, hat die Love-Paradisierung des Mikropolitischen auch hier voll durchgeschlagen. Dies konnte nur in Berlin, der Stadt ohne Eigenschaften, nach Mauerfall passieren, und diese weitgehend politikfreie, auf dem Feld des Kulturellen sich vollziehende Mutation wurde an die Heilsbotschaft der "Berliner Republik" angekoppelt. Künstler und Bauunternehmer strömten gleichermaßen in die Goldgräberstadt, aufeinander angewiesen bei Projektentwicklungen und einander legitimierend im ökonomischen Versprechen. Die Fußmatte für den Eintritt in die "Berliner Republik" heißt "Neue Mitte".

"Seid Subjekte", lautet der Ordnungsruf der Gesellschaft. "Sind wir längst", antworten die Künstlersubjekte und stellen ihre immaterielle Selbstverwertung in den Dienst der materiellen Abschöpfung. Euphorisiert vom gesellschaftlichen Bedeutungszuwachs, von 630-Mark-Jobs und flexiblen Körperpolitiken verwechseln sie Lebensstil mit ästhetischer Arbeit, die, so Negris Hoffnung, einer "Logik der Separation" folgend, den Reproduktionszyklus unterbrechen und aus "immateriellen" Arbeitern "autonome" Subjekte konstituieren helfen könnte.

Negri: "Die Epoche, an deren Beginn wir gerade stehen, ist gekennzeichnet durch die Tendenz der immateriellen Arbeit, hegemonial zu werden, und zugleich durch die Antagonismen, die das neue Verhältnis zwischen der Organisation der Produktivkräfte und dem multinationalen kapitalistischen Kommando hervorbringt; die Problematik der Konstitution verweist somit, vom Standpunkt der Massenintellektualität aus betrachtet, auf die Form der Räte, der Sowjets, und wie es gelingen kann, sie aufzubauen."

Gute Frage.

Ich kannte mal einen Punk, der in die Depression abtauchte, weil seine Ratte von einem Mercedes überfahren worden war. Als er aus seiner Höhle wieder herauskroch, trug er lange Haare und saubere Klamotten. Er organisierte den Berliner Studentenstreik 1988, brach aber sein Studium der Politikwissenschaft ab, als ihn ein Trabi-Fahrer nach dem kürzesten Weg zum nächsten Sex-Shop fragte. Er lotste den geilen Ossi ins tiefste Rep-Neukölln. Jahre später, er hatte eine Menge Jobs und Last-Minute-Reisen hinter sich gebracht, saß er auf seinem morschen Balkon in Prenzlauer Berg, goß die Blumen und las in der Zeitung, daß Toni Negri nach 15 Jahren Exil in Frankreich freiwillig nach Italien ins Gefängnis zurückkehrte, "um den Geist kollektiven Lernens, diese Freude an der Veränderung, diesen angenehmen Beigeschmack des gemeinsamen Wissens wiederzufinden - die Seele der Bewerbungen der siebziger Jahre". Wieder tauchte er in die Depression, und als er nach zwei Jahren erstmals wieder seinen Balkon betrat, der voller Taubenscheiße war, konnte er vom dritten Stock aus die Mutanten der "Berliner Republik" sehen, die ihre Subjektivität spazieren trugen.

Sie kauften in Feinkostläden und Trash-Boutiquen ein, tranken Milchkaffee in tropenholzfreien Cafés und schlürften ihr Beck's in selbstgezimmerten Hinterhof-Clubs, die nur wenige Wochen existierten. Die Untergrund-Kartographie, von der Thomas Pynchon immer geschrieben hatte, war an die Oberfläche getreten, aber deshalb nicht weniger geheimnisvoll. Das Leben war nicht mehr auf der Flucht, sondern geknotet worden zu einem imaginären Netz, das die Risiken der falschen Bewegung mühelos auffing.

Er erkannte in ihnen, den Jungkreativen und Spaßoptimisten, die neuen, frisch geduschten, kanten- und faltenlosen Wesen der "Berliner Republik", welche die seelenlose Glätte der Freizeitgesellschaft spiegeln, und zugleich die Individuen der Massenintellektualität. Die kodifizierte Form des nach außen getretenen Untergrunds markierte den Übergang der Revolte in das Feld der Appropriation. Ja, der öffentliche Raum war gleichbedeutend mit dem Verlassen des Zuhauses. Das Leben war noch immer auf der Flucht. Die Körper kollidierten mit anderen Körpern, veränderten diese und wurden von ihnen verändert.

Der Punk warf endgültig die Valium-Tabletten weg. Er räumte den Taubendreck von seinem Balkon, reparierte den Sessel und cremte sich mit Sonnenschutzfaktor zwölf ein. Dann schloß er die Augen. Nach zwei Stunden Nachdenken wußte er, was zu tun war.

Toni Negri/Maurizio Lazzarato/Paolo Virno: Umherschweifende Produzenten. ID Verlag, Berlin 1998, 128 S., DM 24

Toni Negri: Ready-Mix - Vom richtigen Gebrauch der Erinnerung und des Vergessens. b_books, Berlin 1998, 91 S., DM 19,80