Nazis Reeducated

Randstein-Kick, Hakenkreuze und der Humanismus: Tony Kayes Film "American History X" gibt zweifelhafte Nachhilfestunden

Jeder, der's nicht wußte, kann jetzt lernen, wie das geht: der Randstein-Kick. In der diskussionsträchtigen US-Posse "American History X" praktiziert ihn Darsteller Edward Norton an einem auf dem Boden liegenden Autodieb. Zwei Stunden später werden auch die erstaunlichen Maßnahmen bekannt sein, die Regisseur Tony Kaye - oder wer auch immer für diesen Film verantwortlich ist - als Therapie gegen rechtslastige Ideologie vorschlägt: Will man einen Nazi auf den rechten Weg zurückführen, müssen ihn die immens gebauten NS-Kumpels genau dort penetrieren, wo sie ihm vorher reingekrochen sind.

Der Reihe nach. Milchbuben-Skinhead Danny Vinyard (Edward Furlong) soll einen Schulaufsatz über ein Werk der Weltliteratur schreiben und hat Hitlers "Mein Kampf" gewählt. Der jüdische Geschichtslehrer und sein schwarzer Schuldirektor sind da ganz schön vor den Kopf geschlagen. Doch Rektor Sweeney (Avery Brooks) will Danny noch nicht der Verdammnis preisgeben: Mit einer Sondereinlage Geschichte soll dem 16jährigen der Kopf gewaschen werden. Diese Stunde ist die titelgebende American History X-Nachhilfestunde.

Die Aufgabe: ein Aufsatz über Dannys Bruder Derek (Edward Norton), der eine dreijährige Haftstrafe verbüßt. Der Neonazi-Führer hatte im Blutrausch drei junge Afroamerikaner gekillt, die sein Auto stehlen wollten. Danny verweigerte als Verwandter seinerzeit die Aussage, so kam Dereks Notwehr-Fassung durch. Seinen Bruder verehrt Danny abgöttisch, und Derek hat ihn dermaßen mit NS-Ideologie vollgepumpt, daß Danny angesichts der Hausaufgabe ratlos vor dem Computer sitzt. Wollten wir nicht schon alle mal den Lehrer umbringen? Welches Zuschauerherz fühlte nicht mit Danny.

In einer Rückblende erfährt man, was sich in jener Nacht zugetragen hat. Daß Derek gerade mit seiner Freundin zugange war, als die drei Autodiebe dazukamen. Daß Danny etwas hörte und den Bruder aus dem Bett holte, der - in Unterhose und Springerstiefeln - die beiden Diebe sofort erschoß. Dem dritten hielt er eine Ansprache, die ans Mitgefühl appelliert. "Diesmal habt ihr euch den Falschen ausgesucht!" Ja klar, wer wäre nicht sauer, wenn einem der Wagen geklaut werden soll. Derek befiehlt dem Dieb, weil die Kanone leer ist, seine Zähne in den Bordstein zu schlagen. Anschließend springt er ihm auf den Hinterkopf. Von der Verletzung ist zwar für den Zuschauer nicht viel zu sehen, die Folgen dieser Szene malt man sich aber noch zwei Tage später aus.

Derek mit der dekorativen Hakenkreuztätowierung auf der Brust wird die Ikone der White-Power-Bewegung. Der Tag der Entlassung naht. Was keiner ahnt: Im Gefängnis hat er heilpädagogische Behandlungen erhalten. Erstens hat er in der Wäscherei mit einem schwarzen Mann gearbeitet, das schleift ab. Zweitens wurde er von einem Weißen vergewaltigt. Der Anlaß für die Gewalttat hat wahnwitziges Format: Derek, der sich der Nazi-Gang angeschlossen hatte, befand die White-Aryan-Resistance-Gruppe nicht mehr für ideologisch ausreichend gefestigt, weil sie - Tribut an den Gefängnisschlendrian - mit den Latinos ein paar Drogengeschäfte laufen hatten!

Nach dem Überfall in der Dusche befindet sich Derek mit aufgerissenem Po auf der Krankenstation, wo er Rektor Sweeney weinend in die Arme fällt. Der, das steht außer Zweifel, glaubte immer an das Gute im Menschen, und fand es sogar noch in dem weißen Satan. Jetzt muß nur noch Danny gerettet werden. Das aber ist gar nicht einfach. Da sind die alten Freunde, die ab und zu mal einen vietnamesischen Laden überfallen.

Und in immer neuen Rückblenden erfährt man von der Motivation, rechtsradikal zu werden. Schwarze mogeln beim Basketball; ein Schwarzer brachte den Vater um, der das schon hatte kommen sehen; der jüdische Lehrer (Fairuza Balk) machte sich an die Mutter ran, bis Derek ihn rausschmiß. Und zuguterletzt, wenn Danny ebenfalls seine faschistischen Neigungen abgelegt haben wird, erschießt ihn ein schwarzer Mitschüler - Blutrache für den dreifachen Mord des Bruders. Ist nicht, nach guter Siebziger-Jahre-Soziologen-Analyse, die Gesellschaft an allem schuld? Eine Erklärung, wer die denn eigentlich sein könnte, bleibt aus. Da nützt es auch nichts, wenn aus Gründen der Authentizität Dereks Redebeiträge aus Propagandaportionen rechtsradikaler Senatoren zusammengesetzt sind.

"Wir predigen nichts", sagt Produzent Morrissey, "und das ist das Schöne an 'American History X'. Die Figuren haben Fehler, und man beginnt, Mitleid für ihren Abstieg in Ignoranz und Haß zu empfinden." Gezeichnet wird das Szenario eines Rassenkrieges, der unausweichlich erscheint. Das Schöne in diesem Film zu entdecken, fällt nicht allen so leicht. Regisseur Tony Kaye will mit seinem Film nichts mehr zu tun haben.

In großen Zeitungsanzeigen ließ er verlautbaren, Edward Norton habe den Film zu Ende geschnitten, die Produktionsfirma New Line Cinema habe eine auf Norton abgestellte Fassung in die Kinos gebracht. Norton habe sich als Superstar inszenieren wollen, weitere Pläne zur Filmgestaltung seien ihm, Kaye, versagt worden. Deshalb flog er dem europäischen Filmstart voraus und diskutierte vorsorglich mit dem künftigen Publikum (in Berlin folgte eine Podiumsveranstaltung unter Moderation von Ulrich Wickert).

Dieser Film werde keinen kalt lassen, hatte der deutsche Kinowelt-Verleih prophezeit, und die ersten Reaktionen in den USA vor einigen Monaten schienen dem recht zu geben. Vornehmlich deutsche USA-Besucher wunderten sich, daß ganz New York mit Hakenkreuzen tapeziert war - es war das Filmplakat mit dem nackten Norton.

"American History X" ist vermutlich der erste US-Film, der einen Neonazi zum Protagonisten macht. Die Probleme bleiben nicht aus, die sich grundsätzlich immer einstellen, wenn es um künstlerische Bearbeitungen des Themas Faschismus geht. Das beginnt mit der technischen Seite: Kaye sei Werbefilmer, die faschistischen Gewalttaten seien zu schick inszeniert, so die Vorwürfe, die Bilder orientierten sich an der Ästhetik Leni Riefenstahls - der Mord geschieht in dekorativer Schwarz-weiß-Zeitlupe. Das könne man nicht machen. Auf dem Weg von Mensch zu Mensch nimmt sich die Popkultur eben alles, was sie brauchen kann.

Das ist in der Filmindustrie wohl nicht anders. Der Film komprimiert die gesamte US-Kultur vom HipHop - wo er viele Anleihen macht: Derek ist vor allem ein guter Basketballspieler! - über die Hate Speech bis zu einer diffusen Jugendkultur. Der Nazi ist zwar irgendwie deformiert, Anlässe zum Zuschlagen gibt es aber genug, da ist Kaye apodiktisch, nach der Theorie: Die anderen sind auch nicht besser. Norton spielt das alles sehr überzeugend, ja, er ist wohl ein klasse Schauspieler.

Dazu kommt die Figur des Hintermannes: Der eher kühle Geschäftsmann Cameron kontrolliert die faschistische Jugendgemeinschaft, veranstaltet ihre Konzerte und verdient sein Geld mit dem Vertrieb nazistischer Schriften. Er repräsentiert das Bild vom Mißbrauch der Jugendkultur, des überzeugten Schreibtischtäters, der die politisch diffuse Menge gezielt auf den falschen Weg bringt. Folgerichtig wird er von Derek zusammengeschlagen.

Ein weiteres Erzählmotiv des faschistischen Einzelschicksals ist das des Aussteigers. Der glühende Verehrer der Ideologie (oder des Anführers) muß nicht zuletzt aus dramaturgischen Überlegungen eine Wandlung durchmachen. Während er im ersten Anlauf intuitiv zum Mittelpunkt des Geschehens wird, gelangt er im zweiten Versuch zur Erkenntnis, d.h. zur Einsicht, daß seine Handlungen falsch sind. Während Derek vor seiner Gefängnisstrafe Leben vernichtet, versucht er hernach, Leben zu retten. Dieser Dramaturgie ist ein Zugeständnis an die Sehgewohnheiten: Der transformierte Held hält uns vor der Leinwand. Die Figur des Aussteigers, der sich nach der Läuterung mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert sieht, ist, auf die Geschichte rassistischer Gesellschaftskonflikte bezogen, von unfreiwilliger Komik - woher kommen bloß die ganzen Renegaten aus der Nazi-Szene?

Dazu kommen zeithistorische Ungenauigkeiten, zum Beispiel in bezug auf das in den USA nur kurzfristig praktizierte Affirmative-Action-Programm zur Förderung afroamerikanischer Bürger - da liegt die Vermutung nahe, daß der Film entweder nicht fertig ist oder zur Kategorie vulgärer Puppenstuben-Faschismusanalysen gehört. Da helfen auch gut gemeinte Off-Erzählungen nicht. Guten Tag in Venice/Brandenburg, tut uns leid wegen unserer Jugend, hier sind eben alle arbeitslos. Für dieses Projekt entschuldend-diffuser Erklärungen hat Kaye wundervolle, prächtige und nachdrückliche Bilder geschaffen.

Eine Szene läßt die tiefe Wahrheit dieses Films ahnen, und sie ist wohl gleichzeitig die Trashigste in diesem Skin-Trash: Als Danny seinen humanistischen Turn vollzieht, reißt er gemeinsam mit seinem Bruder die schöne bunte Nazi-Fahnenwelt von der Zimmerwand. Dahinter kommt eine triste braune Holzverschalung zum Vorschein. Könnte man besser zeigen, warum er sich in den Faschismus flüchtete? Zu den heruntergerissenen Bildern gehört - neben dem obligatorischen Hitler-Porträt - auch ein bekanntes Plakat: der Soldat, der, im Moment, als ihn der tödliche Schuß trifft, das Gewehr hochreißt. Daneben steht die Frage "Why?" - ein Motiv aus Zeiten des Vietnam-Krieges. Ist hier noch irgendwer zu retten?

"American History X". USA 1998. R: Tony Kaye. Start: 25. Februar