Lob des kurzen Atems

Zum 200. Todestag von Georg Christoph Lichtenberg

Wer im Mai 1799 das Hannöverische Magazin aufschlug, fand neben der Erörterung "Über den Kalkdünger auf Kleeäckern" auch "Einige Blumen auf Lichtenbergs Grab", einen Nachruf auf den am 24. Februar 1799 verstorbenen Georg Christoph Lichtenberg, Physik-Ordinarius in Göttingen. In diesem Magazin, einer Art Ratgeber für Haus und Garten, hatte Lichtenberg 1766 seinen ersten Text veröffentlicht, betitelt "Von dem Nutzen, den die Mathematik einem Bel Esprit bringen kann" - ein Aufsatz, der programmatisch für sein gesamtes Schaffen ist, für die Verbindung der naturwissenschaftlichen mit der literarischen Kultur.

In seinen "Sudelbüchern", der "Exzerpten-Buch Sparbüchse", wie Lichtenberg sie selbst nannte, versammelte er Notizen zu Literatur, Kunst, Philosophie, Mathematik, Astronomie und Geologie. Mit diesen 1 500 Druckseiten aus 35 Jahren avancierte er in den Augen der Nachwelt zum originellsten Spekulierer seiner Zeit, zum antisystematischen Wahrheitssucher und Sprachmeister. Wer heute Lichtenbergs Aphorismen liest, bemerkt, daß so unterschiedliche Philosophen wie Nietzsche und Adorno hier manche Anregung erhielten.

"Er hatte", schrieb Lichtenberg einmal über einen unbekannten Mann - und man meint in dieser Beschreibung zugleich den Verfasser selbst wiederzuerkennen -, "die Eigenschaften der größten Männer in sich vereint. Er trug den Kopf immer schief wie Alexander, und hatte immer etwas in den Haaren zu nisteln wie Cäsar. Er konnte Kaffee trinken wie Leibniz, und wenn er einmal recht in einem Lehnstuhl saß, so vergaß er Essen und Trinken drüber wie Newton, und (Ö) ein Hosenknopf stund ihm immer offen wie dem Cervantes."

Vielleicht gab seine Krankheit - er litt an chronischer Lungeninsuffizienz - ihm den Arbeitsrhythmus vor: Lichtenberg war ein Meister der Kürze. In seinen eigenen Worten: "Er sagte alles mit so wenig Worten, als sollte er sie sich einbrennen lassen."

1766 war im Hannöverischen Magazin auch der "Versuch einer natürlichen Geschichte der schlechten Dichter hauptsächlich der Deutschen" erschienen, ein Titel, der aufmerken läßt: Lichtenberg selbst kann schwerlich als "Dichter" bezeichnet werden. Seine Lyrik über Sektflaschen und schwimmende Geschützstellungen ist vor allem kurios. Doch er war ein so begnadeter Prosaist, daß man sich unweigerlich fragt: Warum gibt es keinen Groß-Roman von Lichtenberg? Zwar suchte man im gut geordneten und überschaubaren Nachlaß, doch vergeblich, es fand sich keiner.

Wenn es Angst gewesen wäre, was ihn hinderte, sein großes Panoptikum zu erschaffen, so hätte er gewiß ein Mittel erfunden, sie sich auszutreiben, so, wie er es bei der allgemeinen Brontophobie, der Furcht vor Blitz und Donner, durch die Propagierung großflächiger Blitz- bzw. Furchtableiter tat. Seine Ideen lenkte er in gelehrt-gemeinnützige und unterhaltsame Aufsätze um und ab, er erklärte dem deutschen Publikum Hogarths Kupferstiche oder monierte das Fehlen eines deutschen Seebades, informierte über seine Idole Nikolaus Copernicus und James Cook oder das nebulös verhüllte England, parodierte die Reiseschriftsteller ˆ la mode in seiner Abhandlung über die "Kriegs- und Fast-Schulen der Schinesen" und spendete in "Parakletor" jenen Unglücklichen Trost, die keine Originalgenies waren wie er.

Mit Flammenfeder schrieb er gegen Lavater, den christlichen Proselytenmacher: "Aus jedem Manne läßt sich ein Kastrat machen, aber aus keinem Kastraten ein Mann." Insbesondere Lavaters Lehre von der Physiognomie überzog er mit Hohn und Spott. In seiner Schrift "Über Physiognomik" aus dem Jahr 1778 richtete Lichtenberg - auf seine eigene markante Silhouette anspielend - an Lavater diese Frage: "Warum deutet Ihr nicht den Monat der Geburt, kalten Winter, faule Windeln, leichtfertige Wärterinnen, feuchte Schlafkammern, Krankheiten der Kindheit aus den Nasen?"

Lichtenberg polemisierte gegen die Stürmer und Dränger und die empfindsamen Schwarmgeister und stritt sich mit Heinrich Voß d. Ä. über die Frage, wie die alten Griechen den Buchstaben ' (eta) ausgesprochen haben. "Herr Rector Voß zu Otterndorf hat, hauptsächlich aus der Übereinstimmung des Lauts der Schöpse (Schafe; T.W.) des alten Griechenlands mit dem Laut ihrer Brüder an der Elbe, und andern ähnlichen Gründen, nunmehr bewiesen, daß die Griechen ihr ' wie ä, oder besser wie äh gelesen, und folglich den Namen des schönsten Mädchens im Himmel nicht Hebe ausgesprochen, sondern hähbäh geblökt haben. Diese Abhandlung ist gedruckt." Lichtenberg schrieb die wohl schärfste - satirische - Verteidigung der Guillotine, die Beil und Schwert vorzuziehen sei, und sammelte in der "Methyologie der Deutschen" Redensarten, mit denen die Deutschen die Trunkenheit einer Person umschreiben, z.B. mit der zarten Wendung: "Er ist so voll, daß er es mit den Fingern im Halse fühlen kann."

Ab dem Jahr 1770 lehrte Lichtenberg an der Göttinger Universität Physik: Die Experimental-Vorlesungen des atheistischen Spinozisten Lichtenberg waren eine Frühform der "Knoff-Hoff-Show". Mit selbstgebastelten Hochspannungsgeneratoren köpfte er Eier, schmolz Gold und Silber in Glas ein, tötete eine Taube und ließ Ochsenblasen mittels Knallgas explodieren. Ein anderes Mal ließ er Ochsenblasen als aerostatische Ballone steigen. Er bestäubte Platten aus Isolierstoff mit einer Vorform von Toner und nahm damit 1777 das Fotokopierverfahren vorweg. Er setzte Franklins Bezeichnungen "plus" und "minus" für die elektrischen Pole durch. Nebenbei bestimmte er für den englischen König die geographische Lage Hannovers auf den Meter genau.

Es ist wohl unnötig, die Ausgangsfrage noch einmal zu stellen: Weshalb veröffentlichte Lichtenberg keinen großen Roman, z.B. über sein Vorbild Jonas Kunkel, seinen Lehrmeister in der Kunst der Pinik (der Trinkkunst) - der Anfang dieses nicht geschriebenen Romans immerhin ist unter dem Titel "Zur Biographie Kunkels Gehöriges" wohlgeformt überliefert. Weshalb existiert von dem Roman "Christoph Seng" nur der Entwurf, warum endet der "Oberförster" mitten im Satz, nach drei Seiten, wieso besteht "Der doppelte Prinz" nur aus ein paar dürren Skizzen, aus welchem Grund endet "Lorenz Eschenheimers empfindsame Reise nach Laputa" schon gleich nach dem furiosen Einstieg? Ein Anfang, der bezeugt: Jean Paul wäre ohne Lichtenberg nicht möglich gewesen, hätte dieser einen Roman vorgelegt.

Doch Lichtenberg konnte sich nicht entschließen zum Langatmigen, er war zu sprunghaft für ausgedehnte Geschichten und hielt es nicht lange bei einer Hauptfigur aus. Immer wieder floh Lichtenberg seinen Text. Der Paraboliker und Andeuter hat die Mühsal des Romanschreibens schlichtweg gescheut. Und so stehen in seiner Werkausgabe an der Stelle, wo andere Autoren ihre Hauptwerke plazieren, ihren "Titan" oder" Wilhelm Meister", bei Lichtenberg die "Sudelbücher" und "Briefe".

Für uns Heutige sind diese Gebrauchsformen spendabler als ein "Wilhelm Meister", wir von der Uhr Gehetzten sind dankbare Liebhaber der kleinen, ganz und gar nicht staubigen Miniaturen, und wir mahnen nicht wie Goethe: "Wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen", sondern schätzen den Virtuosen der Ungeduld.

Lichtenberg hat ein Monument verdient, und er hat es bekommen: Der Krater "Lichtenberg" liegt, 31¡ nördliche Breite, 67¡ westliche Länge, im Mond. Er mißt 3 936 englische Fuß vom Boden bis zum Grat.