Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?

Heinrich Dubel ist freier Autor

Sonntags kam die TV-Kinderstunde immer besonders früh, kurz nach unserem Mittagessen. Ich glaube, damals lief dann immer "Flipper", jedenfalls beeilte ich mich mit dem Nachtisch, um schnell den Fernseher anschalten zu können. Aber es kam kein Bild. Sofort bekam ich Angst. Ich glaubte, den Apparat kaputtgemacht zu haben, und das ausgerechnet heute, wo dieses wichtige Fußballspiel laufen sollte, über das mein Vater schon beim Frühstück gesprochen hatte und auf das er sich so freute. Scheiße!

Auf gar keinen Fall konnte ich da jetzt zu ihm gehen und ihm sagen, was ich getan hatte, deswegen schaute ich nur kurz in der Küche vorbei, wo meine Eltern immer noch saßen, und verkündete scheinheilig, daß ich es mir doch anders überlegt habe, doch nicht fernsehen und statt dessen lieber rüber zu meinem Kumpel Arthur gehen wolle, um bei dem zu spielen. Und weg war ich.

Womit ich natürlich nicht gerechnet hatte, war dieser siebte Sinn, den Eltern immer dann entwickeln, wenn Kinder etwas vor ihnen geheimhalten wollen: Der Junge mochte sonntags kein Fernsehen gucken, das konnte einfach nicht normal sein. Aber was war da bloß passiert? Weil Schulferien waren, schieden die normalen Auslöser für ein solches unerhörtes Ereignis, also etwa eine verpatzte Klassenarbeit, aus. Mmmhh, da mußte sofort nachgeforscht werden. Es sollte jedoch nicht besonders lange dauern, bis mein Vater im Rahmen der Ursachenforschung den Fernseher einschaltete und sofort merkte, was da nicht gestimmt hatte: Der Bildschirm war schwarz. Und blieb schwarz, egal, wie er fluchte.

Meine Mutter spielte ihn in dieser Situation dann später, als die Geschichte schon fester Bestandteil der Familiensaga geworden war, immer ganz besonders gern nach: "Von mir aus kannst du jederzeit kaputtgehen", schrie er damals ihrer Darstellung nach den TV-Apparat an, "immer, es ist mir wirklich egal, wann. Aber nicht heute!" Dabei schlug er wohl abwechselnd das Gerät und guckte auf die Uhr, während er sich selbst bedauerte: "Da will man einmal einen Sieg gegen die Zone sehen, und dann das."

Das war natürlich nicht ernst gemeint, aber es paßte gut zu seiner Inszenierung als armer, des einzigen Vergnügens beraubter, hart arbeitender Vater. Schließlich mußte er dann jedoch über sich selbst lachen, setzte sich aufs Sofa, atmete durch und eruierte danach schnell die Ursache für den Fernseherausfall: Ich war wohl in meiner Hektik, ja nichts zu verpassen, an irgendeinen dieser Knöpfe gekommen, die irgendwas regelten - möglicherweise den Bildkontrast -, und hatte ihn einfach bloß verstellt.

Und so fand ich, als ich mich sehr spät am Abend dieses 22. Juni nach Hause traute, statt einer erbosten Familie, die schon die Adoptionspapiere für mich fertig gemacht hatte, gut gelaunte Eltern vor. Sie konnten den Anpfiff gar nicht abwarten und lachten mich aus, als ich ziemlich bedröppelt - Arthurs Mutter hatte mich zum Abendbrot trotz aller meiner Ausreden endlich doch heimgeschickt - ins Wohnzimmer schlich, um die Lage zu peilen. Auch nach Sparwassers Tor wurde noch gelacht, schließlich war man linksliberal und hatte mit Nationalismus nichts am Hut.

Aber selbst heute, nach beinahe 25 Jahren, bin ich nicht sicher, was wohl passiert wäre, wenn ich unseren Fernseher damals wirklich kaputt gemacht hätte.