Es sterben immer die anderen

Wieder mal nur Positives zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember.

Rap in Saarbrücken, Versteigerung in Berlin, Schlemmen für den guten Zweck in Stuttgart - Solidaritätsfolklore war am 1. Dezember zum Welt-Aids-Tag angesagt. Das bißchen Menschlichkeit in der Vorweihnachtszeit kostet nichts: Auf Benefiz-Konzerten und Galaabenden heften sich dieser Tage zahllose Promis und Politiker gegenseitig das red ribbon - die rote Schleife als Zeichen der Verbundenheit mit Aidskranken und HIV-Infizierten - medienwirksam an die Brust. Wer das Pech hat, weniger bekannt zu sein, kriegt das kleine Band der Sympathie auf dem nächsten Weihnachtsmarkt, wo man bei Glühwein am Stand der Aids-Hilfe gleich die neuesten Infos einholen kann.

Oberflächlich betrachtet lassen die Erfolge der Aids-Prävention und -Forschung in den letzten Jahren den Eindruck entstehen, man habe die Aids-Krise irgendwie in den Griff bekommen und der Tag, an dem schunkelnd Entwarnung gegeben werden kann, sei nicht mehr fern. Eher das Gegenteil ist richtig. Zwar ist Aids, wie der Frankfurter Mediziner Wolfgang Stille im Vorfeld des diesjährigen 11. Welt-Aids-Tages der Nachrichtenagentur AP sagte, in Deutschland "bei aller Schrecklichkeit eine in Maßen behandelbare Krankheit" geworden, dennoch: Die Krankheit bleibt unheilbar, ein Impfstoff ist nicht in Sicht.

Für die nächsten Jahren rechnen die Deutsche Aids Hilfe (DAH) und das Berliner Robert-Koch-Institut mit einem sich fortsetzenden langsamen Anstieg der HIV-Infektionen in der heterosexuellen Bevölkerung. Derzeit sind etwa 60 000 Menschen in Deutschland von HIV betroffen.

Wenigstens eine gute Nachricht gibt es: Die jährlichen Mittel für Aids-Aufklärung sind - nach Jahren der fortgesetzten Kürzungen - von der neuen rot-grünen Bundesregierung leicht angehoben worden, von 15,7 auf 16,4 Millionen Mark. Die Erkenntnis, daß Prävention Geld kostet, aber immer noch den besten und langfristig auch kostengünstigsten Schutz vor der Krankheit bietet, gilt nach wie vor, auch wenn sie sich in den achtziger Jahren bei Gesundheitspolitikern nur sehr zögerlich durchsetzte. Aufklärungskampagnen in den Schmuddelmilieus von Fixern, Prostituierten und Schwulen - den drei Hauptbetroffenengruppen in nahezu allen westlichen Ländern - zu finanzieren, war dem einen oder anderen Konservativen Mitte der Achtziger dann doch zu viel. Nach diversen Versuchen, einige dieser Kampagnen zu verhindern, nahm man sie schließlich zähneknirschend in Kauf. Im Ergebnis sank die Zahl der Neuinfektionen in den Hauptbetroffenengruppen.

Der eine oder andere Ausrutscher ist da schnell vergessen. Etwa der bayrische Maßnahmenkatalog, mit dem CSU-Spezi Peter Gauweiler noch 1987 das Seuchengesetz auf die Krankheit anwenden wollte - mit der notwendigen Folge der Internierung HIV-Infizierter und Aidskranker -, und längst vergessen auch die vom Spiegel allwöchentlich hysterisch zusammengesponnenen Weltuntergangsszenarien über die Ausbreitung der "Seuche Aids", mit denen das Hamburger Magazin Gauweiler publizistisch unterstützte.

Die lähmende Angst vor sozialer Not, Ausgrenzung und Siechtum in den drei Hauptbetroffenengruppen ist mittlerweile einem eher pragmatischen Umgang mit der Krankheit und der kompetenten "Verwaltung" durch die Aids-Hilfen gewichen. Und wo die seit Jahren zusammengestrichenen staatlichen Aids-Gelder für sinnvolle Arbeit nicht mehr ausreichen, da hilft der Gesetzgeber ein bißchen disziplinierend nach: Die rasche Einführung der Homo-Ehe in verschiedenen europäischen Ländern beispielsweise, so geben bürgerliche Schwulenpolitiker und Konservative ganz offen zu, sei immer auch im Rahmen einer sehr spezifischen Strategie zur "Aids-Bekämpfung" zu denken. Die homosexuelle Promiskuität, so wußte schon der Spiegel vor zehn Jahren aus dem schwulen Sumpf zu berichten, sei schließlich "der Motor der Seuche".

Für die Wahrnehmung, daß sich die Situation entdramatisiert hat, gibt es in der Realität allerdings keine Entsprechung, sieht man von den Verhältnissen in den westlichen Ländern einmal ab: 90 Prozent aller Aids-Infizierten leben nicht in Industriestaaten, und 5,8 Millionen Menschen weltweit werden sich nach jüngsten Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation WHO bis Jahresende mit dem aidsverursachenden HIV-Virus infiziert haben. Insgesamt haben damit 33,4 Millionen Menschen das Virus im Blut.

Alarmierend ist auch die Tatsache, daß die Hälfte der Neuinfektionen Menschen zwischen 15 und 25 Jahren betrifft. "Damit wird Aids immer mehr zu einer Krankheit der Jugend", so Pieter Piot, Direktor der 1995 gegründeten Uno- Unterorganisation Unaids, Ende November über die jüngste Entwicklung. Derzeit geht man davon aus, daß sich 11 Menschen pro Minute mit HIV anstecken. "Jede Neuinfektion ist ein Zeichen unseres Versagens - unseres kollektiven Versagens."

Die Folgen des kollektiven Versagensbekommen allerdings nicht alle gleichermaßen zu spüren. "In Asien, Südamerika und Osteuropa haben sich die Infektionsraten seit 1994 verdoppelt oder verdreifacht", so Piot. Der insgesamt überschaubaren Rate bei den Neuinfektionen in westlichen Industriestaaten - für Deutschland geht das Berliner Robert-Koch-Institut von jährlich etwa 2 500 Fällen aus - steht ein dramatischer Anstieg in nahezu allen Entwicklungsländern gegenüber.

Allein im südlichen Teil des afrikanischen Kontinents erhöhte sich nach Angaben von Unaids die Zahl der (fast ausschließlich durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr übertragenen) Neuinfektionen in den letzten zwölf Monaten um vier Millionen. Während seit 1995 die Todesrate von HIV-Infizierten in Europa - dank medikamentöser Therapiemöglichkeiten wie der sogenannten Dreierkombination - um 84 Prozent zurückgegangen ist, zählt man in Regionen südlich der Sahara etwa 5 500 Todesfälle pro Tag. "Gute Geschäfte für Sargmacher", kommentierte dies ein AP-Korrespondent.

In Botswana und Simbabwe sind ein Viertel aller Erwachsenen, meist ohne davon zu wissen, mit HIV infiziert. In China breitet sich Aids rasant aus, für Osteuropa hat Unaids in den letzten drei Jahren ein "astronomisches Anwachsen" von Neuinfektionen festgestellt, dort vornehmlich durch die gemeinsame Benutzung von Drogen-Spritzbesteck übertragen. Am stärksten betroffen ist derzeit die Ukraine. "Wenn wir nicht schnellstens handeln, wird Osteuropa in wenigen Jahren ein neues HIV-Epizentrum werden", warnte Piot schon Mitte des Jahres.

Bislang halten sich die Aktivitäten zur Eindämmung der Krankheit in Grenzen, Aids-Medikamente sind für Länder der industriellen Peripherie und Entwicklungsländer ohnehin unbezahlbar. Der Rückgang von Neuinfektionen in Thailand und Uganda, die beiden einzigen Entwicklungsländer mit sinkenden Infektionsraten, ist allein auf eine energische Präventionskampagne zurückzuführen.

Von den verbesserten Behandlungsmöglichkeiten bei Aids profitiert allerdings auch in den reichen Ländern nicht jeder. Mehr noch, oft wird - wie in Deutschland - eine Entscheidung über die notwendige medizinische Behandlung ganz unverhohlen als Mittel staatlicher Repression eingesetzt. Erst vor wenigen Tagen hat die DAH die Versorgung HIV-infizierter Asylbewerber und anderer Migranten als "unzureichend" kritisiert und die Aufhebung spezieller Leistungseinschränkungen für Asylbewerber gefordert. Die Betroffenen, so die DAH, seien vom medizinischen Fortschritt in der Therapie "weitgehend ausgeschlossen", außerdem verhindere die eingeschränkte Bewegungsfreiheit von Asylbewerbern die freie Arztwahl, so daß in Regionen ohne HIV/Aids-Spezialversorgung "eine angemessene Betreuung nicht möglich" sei.

Längst gibt es im Gesundheitsbereich eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, die grundlegende Persönlichkeitsrechte für Menschen ohne deutschen Paß "teilweise außer Kraft gesetzt" hat, so DAH-Geschäftsführer Stefan Egeton. Als Grund für diese "dramatische Entwicklung" nannte die DAH das Ausländerrecht, insbesondere das Asylbewerberleistungssgesetz, wonach Behandlungskosten nur noch bei akuter Erkrankung bezahlt werden.

Die Folgen sind konkret ablesbar: Während die Zahl der Neuerkrankungen im Bundesdurchschnitt in den letzten vier Jahren um mehr als die Hälfte zurückging, blieb sie bei den Migranten fast gleich hoch. Unter den erkrankten 15-24jährigen, die nicht aus Industrieländern stammten, stieg die Rate von 28 auf 85 Prozent.

Wie man das Probleme am besten löst, hat Anfang Oktober das Münchener Verwaltungsgericht mit einer Eilentscheidung vorgemacht. Wegen des von ihm "ausgehenden Risikos" und der zu befürchtenden erhöhten Kostenbelastung für die Krankenkassen wurde ein HIV-positiver Kanadier aus Deutschland ausgewiesen. Der bayrische Maßnahmenkatalog ist offenbar aktuell.