Vollzeit-Lebensgefühl

Als Pop noch an sich selbst glaubte - Todd Haynes' Glam-Retro "Velvet Goldmine"

Glam-Rock unter den Prämissen von Camp zu betrachten, dürfte nicht ganz falsch sein, trifft auf Glam doch genau das zu, was Susan Sontag in den Sechzigern feststellte: "Camp ist eine Betrachtung der Welt unter dem Gesichtspunkt des Stils - eines besonderen Stils freilich. Es ist die Liebe zum Übertriebenen, zum 'Übergeschnappten', zum 'Alles-ist-was-es-nicht-ist'."

Mit Stil eine Welt zu schaffen, in der die Präsentation der Oberfläche durch perfekte Image-Kontrolle über jeden Anspruch an Authentizität und musikalisches Können erhaben ist, war schon immer Kennzeichen von britischem Artschool-Pop. Der Glam-Rock der frühen Siebziger als erster Höhepunkt kunstbeflissenen Popdesigns wurde dabei zur Formel für die Erlösung aus dem Hippie-Elend, zum Gegengift zu Led Zeppelinschem Cock Rock, zum Erinnerungsfaktor für Punk, zur Blaupause für die New Romantics der Achtziger und - endlich - zur Revivalhoffnung der späten Neunziger.

So sehr einem die ganzen Rückkopplungen der Popkultur auch langweilen mögen, Todd Haynes' "Velvet Goldmine" kann man als die Initialzündung des Revivals auf der Haben-Seite verbuchen. Denn obwohl Jarvis Cocker, der androgyne Sänger von Placebo, Brian Molko, oder Marylin Manson wie auf Bestellung gelangweilte Aufregung durch eingeübten Gendertrouble, exaltiertes Auftreten und gelegentliches Tragen einer Federboa produzieren, wird die Glam-Ära, aus der wie wild zitiert wird, immer noch als typischer Siebziger-Auswuchs, als Leerstelle zwischen Hendrix und Pistols verkannt.

In "Velvet Goldmine" geht es um Geschichtsschreibung bzw. Geschichtsumschreibung, um Rise and Fall des Rockidols Brian Slade - perfekte Reinkarnation des jungen Bowie: der 19jährige Jonathan Rhys Meyers - im besonderen und des Glam-Rock im allgemeinen. Präsentiert wird diese Geschichte als Recherche des New Yorker Journalisten Arthur Stuart (Christian Bale), der den Auftrag hat, der Geschichte des von der Bildfläche verschwundenen Idols nachzuforschen.

Das retrospektive Erzählprinzip verweist auf die Forderung von Haynes, Glam endlich einen höheren Stellenwert innerhalb der Schwulengeschichtsschreibung, der Gender-Debatte und der Popkultur insgesamt einzuräumen. Ausgangspunkt der Rückbetrachtung ist 1984 - in diesem Jahr beginnt der Musikjournalist Stuart seine Recherchen - , was den Film auf geschickte Weise vor einer schlichten Damals-Heute-Opposition bewahrt und die dunklen Thatcher/Reagan-Jahre zur Gegenwart erklärt.

Durch Befragung der Ex-Frau von Brian, Mandy Slade (Toni Colette), versucht Stuart das plötzliche Verschwinden des Idols nach dessen spektakulärer selbstinszenierten Ermordung auf der Bühne zu rekonstruieren. Im rauschhaften Nachvollzug der barock-opulenten Bildwelt seiner eigenen Jugend begibt sich Stuart, der die Drogenexzesse, das Spiel mit Geschlechterrollen, das Auflösen sexueller Tabus als Projektion eigener Wünsche auf das Leben seiner Glam-Idole erlebte, auf eine Zeitreise in die Siebziger. Das Teilhaben an dieser Welt als Fan war für Stuart die Befreiung von Kleinstadtmief, Elternzwang und Onanie-Kontrollen. Und schließlich fand er in den Exzessen und Ausschweifungen der Londoner Szene die libertäre Scheinwelt, die ihm ganz real sein Bekenntnis zur Homosexualität ermöglichte.

So ist "Velvet Goldmine" nicht bloß eine Orgie des Glam, sondern weitet sich zur Feierstunde von Jugendlichkeit aus. Wenn Jugendkulturen etwas zugeschrieben werden konnte, dann das Potential, in einer kollektiven Bewegung individuelle Befreiung zu ermöglichen. Arthur Stuart bediente sich dafür seiner Idole, die sich selbst wiederum als Gefangene einer Scheinwelt entpuppen. So fällt auf, daß sich Brian Slade nur scheinbar immer wieder neu erfindet, sondern natürlich stets auf äußere Erwartungen reagiert und mit zunehmendem Erfolg dem Zwang des Identitäts-Switchens unterworfen ist. Was dazu führt, daß er, um vor Selbstzweifeln zu flüchten, sich immer stärkeren Sinnesräuschen hingibt. Der inszenierte Selbstmord bleibt da als einziger Ausweg, das Spiel mit dem Schein und den wechselnden Identitäten zu beenden, ohne die Spielregeln zu brechen.

Es treten Placebo als Fake-New York Dolls auf, die den T.Rex-Hit "20th Century Boy" spielt; und eine Band, die der jungen Suzi Quatro und ihren Musikern nachempfunden ist, gibt dafür den New York Dolls-Song "Personality Crisis" zum besten. Wer steht hier für wen, und spielt das überhaupt noch eine Rolle?

Haynes stellt eine verworrene Zitatensammlung zusammen und fordert auf, sie zu dechiffrieren - doch die Dechiffrierung muß scheitern. Was ist hinter der Oberfläche? Auch bloß wieder Schein. Und solange das nicht akzeptiert wird, solange man immer noch verzweifelt nach "Wahrheit" gräbt und damit scheitert, funktioniert ein Film wie "Velvet Goldmine" so gut.

Zwar kann man sich fragen, ob "Velvet Goldmine" vielleicht doch nicht viel mehr ist als ein zu lang geratener Videoclip, der sich an Mythen abarbeitet, ohne Klärung zu verschaffen. Doch hinter all dem Bombast und Kitsch steckt auch eine konkrete Ebene. Erzählt der Film doch von der verlorenen Zeit, in der noch an die Veränderung der Welt durch Pop geglaubt wurde, weil Pop an sich selbst glaubte.

Curt Wild alias Iggy Pop alias Ewan McGregor, dem Brian Slade verfallen ist, zerstört sich auf der Bühne wie im Leben selbst, weil er zwischen beidem keinen Unterschied macht - Glam als Vollzeit-Lebensgefühl. Doch das ist vorbei, und deshalb ist "Velvet Goldmine" trotz aller Euphorie auch ein sentimentaler Rückblick.

Glam wird zu einer Avantgarde stilisiert, die für Androgynisierung stand und das einforderte, was Foucault den "offenen Diskurs" nannte: Es wurden nicht bloß überkommene Geschlechtergrenzen eingerissen, nicht nur das verändert, was vorstellbar war, sondern, auch offen gehalten für das, was noch kommen könnte. Körperbefreiung grenzenlos. Das findet sich heute wieder - als Theorie. Damals war man weiter, so der Mythos von "Velvet Goldmine".

"Velvet Goldmine". GB 1998. R: Todd Haynes. Start: 26. November