Aufbruch zum Euro-Keynes

Ein Plädoyer für eine gesamtwirtschaftliche Nachfragepolitik.

Der Wechsel der Bundesregierung ist vollzogen. Daß damit auch ein demokratisch gewählter Wechsel der Wirtschafts- und Finanzpolitik gewollt wird, liegt auf der Hand. Schließlich ist vor allem die in den letzten Jahren bestimmende neoklassische Angebotslehre gescheitert und daher abgewählt worden: Unbestreitbare Steuerentlastungen zugunsten der Unternehmen seit 1982, Lohnzuwächse unterhalb der Produktivität, Abbau sozialstaatlicher Regulierungen zur Marktentfesselung - all diese Vorleistungen wurden in der Gesamtheit nicht durch ausreichende Sachinvestitionen für Arbeitsplätze belohnt.

Die Spaltung zwischen einer lahmenden Binnenwirtschaft und einer wegen ihrer Wettbewerbsstärke bisher florierenden Exportwirtschaft ist die Folge. Dabei droht infolge der Wirtschaftskrisen in den bisherigen Tigerstaaten neuerdings dem Exportsektor große Gefahr. Dies schlägt sich für 1999 im erwarteten Rückgang des wirtschaftlichen Wachstums von drei auf unter zwei Prozent nieder.

Auf diesen konjunkturellen Rückgang erneut mit den Instrumenten der Angebotspolitik reagieren zu wollen, hieße den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Angesichts dieser Risikokonstellation muß vielmehr die Finanz- und Geldpolitik die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stärken. Das dient auch der Unternehmenswirtschaft.

In der Tat, die Wiederentdeckung der Theorie und Politik nach Lord John Maynard Keynes wird durch die realen Krisengefahren erzwungen. Die massiven Attacken gegen den oft übel entstellten Keynesianismus durch die überwältigende Mehrheit der Lehrstuhl-Ökonomen produzieren ein intellektuelles Trauerspiel. Da ist von der Wiederbelebung "verblichener Gespenster" und dem Rückfall in die siebziger Jahre die Rede.

Ein moderner Keynesianismus ist jedoch, ausgestattet mit einem weitsichtigen Nachfrage- und Angebotsauge, der einzelwirtschaftlichen Gewinnpflege allemal überlegen. Man darf dabei nicht vergessen, daß die Wurzeln dieser Angebotsökonomie in der irreal harmonistischen Vulgärökonomie eines Jean Baptiste Say aus der Mitte des letzten Jahrhunderts liegen.

Der übermächtigen Phalanx der deutschen Ökonomen- und Wirtschaftsgutachter gegen den Keynesianismus steht die Gelassenheit vieler Experten in den USA gegenüber. Dort ist die Notwendigkeit einer weltweit keynesianischen Politik längst wiederentdeckt worden. So hat unlängst der wahrlich unverdächtige Paul Romer - Pionier der "neuen Wachstumstheorie" - die "keynesianische Botschaft" erneuert: Die tiefe Wirtschaftskrise in vielen Regionen der Welt führt dazu, daß wegen unzureichender Nachfrage die Produktionsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft bzw. entwickelt werden. Die Gefahr einer Weltwirtschaftskrise, an deren Erklärung ja gerade die neoklassische Angebotslehre gescheitert ist, ist nicht gebannt.

Nicht nur die deutsche Wirtschaftslage muß keynesianisch gedeutet werden. Die nachfragebedingt unzureichende Ausschöpfung der Wachstumsmöglichkeiten erklärt den unternehmerischen Investitionsattentismus und die hartnäckig stabile Arbeitsplatzlücke.

Die deutsche Wirtschaft bewegt sich in der Liquiditätsfalle. Die üppigen eigenen Finanzierungsmittel der Unternehmen werden, wie die Analysen der deutschen Bundesbank belegen, nur unzureichend in Sachinvestitionen und Arbeit umgemünzt.

Einzelwirtschaftlich ist dieses Verhalten durchaus rational. Wer würde ernsthaft von Unternehmen verlangen, bei unzureichenden Absatzaussichten zu investieren? Diese Falle zwischen einzelwirtschaftlicher Rationalität gegenüber der dadurch zustandekommenden Unterauslastung des gesamtwirtschaftlich möglichen Produktions- und Beschäftigungsniveaus ist derzeit nur durch eine Stärkung der Nachfrage zu überwinden. Sie dient der Verbesserung einzelwirtschaftlich realisierter Rentabilität.

Die neue Bundesregierung pflegt durchaus die Sehkraft auf beiden Augen der Gesamtwirtschaft, wie es der US-Ökonom Paul Samuelson fordert: Die längerfristigen Angebotsbedingungen der Wirtschaft werden aktiv durch Innovations-, Forschungs-, Bildungs- und Qualifizierungspolitik sowie eine Stärkung der Infrastruktur verbessert. Darüber hinaus geht es um die Mobilisierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage mit allen politischen Instrumenten. Für die einzelnen Politikfelder bedeutet dieses Zurück zur gesamtwirtschaftIichen Vernunft:

- Auf die konjunkturelle Abschwächung im nächsten Jahr muß die Finanzpolitik antizyklisch reagieren. Die steigende Neuverschuldung durch konjunkturbedingte Mindereinnahmen und Mehrausgaben muß hingenommen werden. Sie mit Ausgabenkürzungen bekämpfen zu wollen, gliche einem Rennen zwischen Hase und Igel. Am Ende wäre die öffentliche Kreditaufnahme wegen sich multiplizierenden Einnahmeverluste höher.

- Auch die Geldpolitik muß sich endlich ihrer doppelten Verantwortung für die Verhinderung von Inflationserwartungen und Wirtschaftswachstum mit Beschäftigung bewußt werden. Die Deutsche Bundesbank überschätzt seit Jahren die Inflationgefahren und hat damit Wachstumsprozente verschenkt. Nicht Inflation, sondern eher Deflation dominiert, d.h. mit steigender monetärer Nachfrage ließe sich die reale Produktion inflationsfrei erhöhen. Spielraum zur Senkung der durch die Bundesbank beeinflußten realen Geldmarktzinsen gibt es durchaus. Die für die Sachinvestitionen relevanten Kapitalmarktzinsen ließen sich noch weiter nach unten drücken. Was für Deutschland gilt, trifft auch für Euroland zu. Das europäische System der Zentralbanken kann mit einer expansiven Geldpolitik positiv wirken.

- Die Lohnpolitik muß schließlich wieder ihren Part zur Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage übernehmen. Die hinter der Produktivität herhinkenden Lohnzuwächse haben in den letzten Jahren die lohnfundierte Basis konsumtiver Nachfrage geschwächt. Daher sollte der Lohnanstieg wieder am Zuwachs der (realen) Arbeitsproduktivität ausgerichtet werden. Dies sichert einen inflationsfreien Anstieg der Kaufkraft der Löhne. Diese Lohnformel gilt gerade auch im Euroland. Lohnsenkungswettbewerb wäre schädlich. Durch die Produktivitätsorientierung konzentrieren sich die Unternehmen auf ihre Innovationsfähigkeit.

Die durch die neue Bundesregierung wiederentdeckte gesamtwirtschaftliche Vernunft zielt letztlich auf die Verbesserung der unternehmerischen Absatzchancen. Eine europaweite Ausrichtung ist nötig und möglich. Die nationalen Grenzen, die die keynesianische Politik in den siebziger Jahren in der Tat belastet haben, fallen im Euroland weg. Damit ist der Weg zu einem Euro-Keynesianismus geöffnet.

Der Autor ist Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Bremen