620-Mark-Jobs

Alles bleibt anders

Direkt aus Moskau eingeflogen, sprach Bundeskanzler Schröder sein Machtwort: Die Grenze für die Sozialversicherung bleibt jetzt doch bei 620 Mark. Eine Senkung auf 300 oder gar 200 Mark gibt es nicht. Dafür wird die bisher geltende pauschale Lohnsteuer abgeschafft.

Schröder wischte damit den Gesetzesvorschlag vom Tisch, mit dem vor allem die Gewerkschaftsbürokratie die rund 5,6 Millionen Billig-Jobs umgestalten wollte. Ursprünglich sollten die Gering-VerdienerInnen auch noch etwa 20 Prozent Beiträge für die Sozialversicherung bezahlen. Dies hätte bei einem Verdienst von 620 Mark einen weiteren Reallohnverlust von über 100 Mark bedeutet.

Statt dessen müssen die Unternehmer nun zwölf Prozent an die Renten- und zehn Prozent an die Krankenkasse abführen. Allerdings entstehen dadurch für die geringfügig Beschäftigten keine Ansprüche, es sei denn, sie zahlen freiwillig zusätzlich 7,5 Prozent ihres Lohnes an die Rentenkasse. Was wohl kaum jemand machen wird. Dazu noch ein paar Regelungen, um den allzu exzessiven "Mißbrauch" der 620-Mark-Jobs zu verhindern.

Die neue Regelung reißt zwar ein Milliardenloch in den Finanzhaushalt - was auch zeigt, wie überstürzt die ganze Aktion beschlossen wurde. Aber am Ende waren fast alle zufrieden. Die "unten" können ihre Nischen im real existierenden Kapitalismus erstmal behalten, und die Unternehmerverbände zeigten sich auch ganz glücklich. Denn außer einer Umwidmung der Gelder ist nicht viel passiert. Nur die Gewerkschaften sprachen von "einem ersten Schritt" und meldeten schon wieder "Nachbesserungsbedarf" an.

Da werden sie nicht lange zu warten brauchen. Vor dem Bundesverfassungsgericht wird dieses neue Gesetz sicherlich keinen Bestand haben. Denn den von den Unternehmern bezahlten Beiträgen zur Sozialversicherung stehen keinerlei Ansprüche und Leistungen gegenüber. Und mit Sicherheit wird auch die fehlende Steuergerechtigkeit durch den Wegfall der pauschalen Lohnsteuer moniert werden.

Doch was hatte Schröder zu diesem Schritt veranlaßt? Einerseits hat er, durch die tägliche Lektüre von Bild, doch etwas Gespür dafür, was bei den "kleinen Leuten" ankommt. Und andererseits ist er soweit auf der Höhe der Zeit, um nicht mehr an eine Rückkehr zum fordistischen Normalarbeitsverhältnis zu glauben.

Und nun? Offenbar haben auch die ModernisiererInnen in der SPD und bei den Grünen bis jetzt noch kein endgültiges Konzept zur Zukunft der Sozialsysteme in der Tasche.

Doch spätestens im kommenden Jahr wollen sie mit dem Umbau der gesamten Sozialversicherung beginnen. Oskar Lafontaine hat schon angekündigt, wohin die Reise geht: Abschaffung der beitragsfinanzierten Arbeitslosenversicherung und ihre Ersetzung durch eine steuerfinanzierte bedarfsabhängige Arbeitslosenunterstützung.

Ohne Opposition wird die Chance verpaßt werden, das einzufordern, was wirklich notwendig wäre: eine Sozialversicherung für alle, unabhängig davon, wie niedrig die Einkommen auch sind und um welche Form der Beschäftigung es sich handelt.

Dann wird der Konflikt um den Sozialumbau so einfach entschieden wie jetzt die Auseinandersetzungen um die 620-Mark-Jobs. Nur daß dann das Machtwort eben von Oskar Lafontaine gesprochen wird.