Bruchstücke deutscher Normalität

Wozu die "Affäre Wilkomirski" alles taugt

Vielleicht hat sich Binjamin Wilkomirski alias Bruno Doessekker seine Erinnerungen an eine jüdische Kindheit im Holocaust erdacht. Mit Sicherheit hat erst der Fälschungsverdacht seinen Fall für das deutsche Feuilleton wirklich interessant gemacht.

1995 wurde Wilkomirskis Buch "Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939 bis 1948" im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp veröffentlicht. 1996 ist das überschwenglich gefeierte Werk in den USA mit dem National Jewish Book Award der Sparte "Autobiographie/Erinnerung" ausgezeichnet worden. 1997 zeichnete das Holocaust-Museum in Washington Wilkomirskis Zeugnis auf sechs Videobändern auf. Und stets beharrte der Autor auf Fachkongressen, vor Schulklassen oder im Gespräch mit Raul Hilberg auf der Authentizität seiner Erinnerungen.

Seit September 1998 ist die Bewunderung für den Autor in Skepsis, Distanz oder Abscheu umgeschlagen. Eine in der Zürcher Weltwoche veröffentlichte Recherche hatte anhand von Akten der Schweizer Behörden einen lückenlosen schweizerischen Lebenslauf Wilkomirskis präsentiert. Damit steht der schwerwiegende Verdacht im Raum, daß dessen angeblich "jüdische Identität", wie auch seine Behauptung, in deutschen Konzentrationslagern aufgewachsen zu sein, kein Faktum ist, sondern eine Fiktion. Wilkomirskis Reaktion hat diesen Verdacht eher bestärkt denn widerlegt.

Zwar hat er die Bergier-Kommission, die das Verhältnis der Schweiz zu den Juden in den vierziger Jahren untersucht, darum gebeten, auch seine eigenen frühen Jahre zu erforschen und mitteilen lassen, daß er "ausschließlich dieser Kommission Auskunft und rückhaltlosen Zugang zu allen verfügbaren Dokumenten unter Einbeziehung auch der Forschungsstelle 'Kinder ohne Identität' in Jerusalem" gewähren werde. Zugleich hat er jedoch, anstatt die Weltwoche wegen übler Nachrede zu verklagen, in einem Interview erklärt: "Es stand dem Lesenden immer frei, mein Buch als Literatur oder als persönliches Dokument wahrzunehmen."

Im Nachwort seines Buches sprach Wilkomirski zwar einschränkend von dem "möglichen historischen Kontext", den er aus den "Bruchstücken der Erinnerung" rekonstruiert habe. Er ließ jedoch an der Authentizität seiner Erinnerung ("Mein Gedächtnis war nicht zu löschen") keinen Zweifel und erklärte seiner Leserschaft, durch "jahrelange Forschungsarbeit" die "Wahrheit" seines Lebens wiedergefunden zu haben.

Die neue Unentschiedenheit Wilkomirskis über den Charakter seines Textes steht nicht nur im Widerspruch zu seinem öffentlichen Auftreten, sondern kennzeichnet zugleich den Kern des Problems: "Daß es jedermann freisteht, an die Authentizität der Berichte über den Holocaust zu glauben oder nicht zu glauben - dies ist ja gerade die zynisch-entspannte Position der modernen Revisionisten, die die Lektion der postmodernen Erkenntnistheorie gelernt haben."

Diese Warnung ist bedenkenswert - selbst dann, wenn sie aus der Feder des Zeit-Journalisten Jörg Lau stammt. Versteckt hinter einer scheinbar wohlwollenden, um das Ansehen der Holocaust-Überlebenden besorgten Argumentation wird der Fälschungsverdacht gegen Wilkomirski von ihm instrumentalisiert.

Lau, der federführend die Affäre um den Schweizer Autor in Deutschland bekanntgemacht hat, sieht in der mutmaßlichen Fälschung Wilkomirskis "nur die eine Hälfte des Skandals". Der eigentliche Skandal sei die "Bereitwilligkeit", mit der die Leserschaft sich von den "pornographisch expliziten Gewaltszenen" des Holocaust-Buches hätten beeindrucken lassen. Immerhin konzediert Lau dieser Leserschaft, daß es für die "reflexhafte Angerührtheit" über Wilkomirskis Text auch "respektable Motive" gegeben habe, "kurz gesagt all jene Verhaltensdispositionen, die gerne als 'Betroffenheit' verspottet werden".

Seine eigentliche Kritik gilt hingegen dem "in falscher Pietät erstarrten" Kulturbetrieb, der sich von Wilkomirskis "Holocaust-Schauerromantik" anstandslos über's Ohr hauen ließ. Das Feuilleton habe versagt, und dieses Versagen habe einen Grund: Die Perversion eines "Schuldstolzes" in der einschlägigen Szenerie. Es tue "merkwürdig gut, einen solchen grausigen Text lesend zu ertragen und ihn dann einer vermeintlich unwilligen Öffentlichkeit anzuempfehlen. (...) An solchen Auftritten voller Schuldstolz ist etwas faul." Schon in dem zynisch-verlachenden Bild von der "Holocaust-Schauerromantik" werden die Realitäten der Shoah derealisiert und der Bericht über eine Kindheit im Vernichtungslager in die Nähe eines Schauerromans gerückt, dessen Lektüre einer innerlichen Sehnsucht Befriedigung verschafft.

Mit der Erfindung der Vokabel "Schuldstolz" aber hat sich Lau endgültig für eine Karriere in der neuen Berliner Republik qualifiziert. Die Disposition, für die Schröders neuer Kulturchef Michael Naumann im April bereits den Begriff "Sühnestolz" kreierte, für die Jörg Lau im September die Vokabel "Schuldstolz" erfand und welche das wandelnde Sensorium für deutsche Stimmungslagen, Martin Walser, im Oktober als "Dauerpräsentation unserer Schande" geißelte, ist unzeitgemäß geworden, "mega-out". Mit Karriere belohnt wird hingegen, wer sich von der "Moralkeule Auschwitz" nicht treffen läßt.

Niemand hat bisher daran erinnert, wie der von Lau umworbene Michael Naumann jenen Tauglichkeitstest bestand: Gegen zahllose jüdische und nicht-jüdische Proteste hatte er im April 1998, noch als Chef des renommierten New Yorker Verlages Henry Holt And Company, das deutlich antisemitisch gefärbte Anti-Goldhagen-Traktat von Norman G. Finkelstein auf den Markt gebracht. (Jungle World, Nr. 21/98) Erst Finkelstein habe, so Naumann in einem Leserbrief an die Zeit, "die Irr- und Verwirrwege dar(gelegt), die Goldhagen abschreitet". Wer dennoch Finkelstein, zumal in Deutschland, ob dessen Antisemitismus kritisiere, weise "im altneuen Sühnestolz" lediglich auf sich selbst.

Für die neue Unbefangenheit der Berliner Republik, in der "deutsche Selbstkasteiung" (Naumann) und "Schuldstolz" (Lau) als rückwärtsgewandt, der Stolz auf Deutschland minus Holocaust-Denkmal hingegen als Zukunftsorientierung gilt, ist die "Affäre Wilkomirski" bloß ein passender Verstärker, mehr nicht.

Die Stoßrichtung der Argumentation von Lau hat auch Günther Jacob in der November-Ausgabe von konkret kritisiert. Zu Recht weist er den Versuch des Zeit-Journalisten zurück, "das Lesepublikum als einfältig zu schelten, weil es Wilkomirski wie Ida Fink oder Ruth Klüger gelesen hat". Anstatt aber die Dignität des autobiographischen Zeugnisses gegen den Verdacht der Beliebigkeit zu verteidigen, wird bei ihm der grundlegende Unterschied zwischen fiktiver Erzählung und autobiographischer Erinnerung in Frage gestellt.

Der Fälschungsvorwurf gegen Wilkomirski wird hier "als Beleg für die auf der reinen Lektüre-Ebene gegebene Ununterscheidbarkeit" interpretiert: Man habe es "mit einer Situation zu tun, wo der Unterschied zwischen Zeugnisliteratur und der übrigen Literatur (...) für das Publikum unsichtbar war". Abgesehen davon, daß es keines Wilkomirski bedurfte, um sich der Trivialität zu vergewissern ("Beleg"), daß eine gut gefälschte Autobiographie von einer echten schwer zu unterscheiden ist, geht die Behauptung der textualen "Ununterscheidbarkeit" am eigentlichen Punkt vorbei.

Im Fall Wilkomirski steht nicht die Suggestionskraft von Literatur zur Debatte, sondern die Wahrhaftigkeit eines Autors; die Frage also, ob dessen Darstellung einen biographisch beglaubigten Wahrheitskern in Anspruch nehmen kann oder nicht.

Nun hatte aber Jacob schon in einem früheren Text die Untersuchung über die literarischen Formen, in denen die Erinnerungen an den Holocaust dargestellt werden, mit der Behauptung kontextualisiert, daß der "objektive Befund" ein "Phantasma" und die "Fakten" lediglich "erzählende Rekonstruktionen" seien, weshalb "fiktionale Wahrheit und historische Wahrheit eine Einheit bilden". (Jungle World, Nr. 15/98) Spätestens seit der Debatte um die "Bruchstücke" hat sich der eher spielerische Umgang mit "Fakten und Fiktionen" zumindest im Kontext der Holocaust-Literatur jedoch diskreditiert.

Die Tatsache, daß alle Erinnerungen an den Holocaust sich bestimmter Erzählstrategien bedienen, kann deren Zeugnis-Charakter weder auflösen noch relativieren. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. In seinem Beitrag für konkret hat Jacob jedoch erneut die (höchst beliebige) Erzählstrategie eines Textes mit dem (keineswegs beliebigen) biographisch beglaubigten Wahrheitskern seines Autors unmittelbar verknüpft: "Diese Fiktion von Authentizität kann nicht allein durch die biographische Authentizitätsbehauptung des Autors entstanden sein", behauptet Jacob über Wilkomirski, "es muß vielmehr auch die literarische Strategie dabei eine Rolle gespielt haben."

Biographische Authentizität ist aber niemals eine Frage der erzählerischen Strategie, sondern stets eine Frage der empirisch-überprüfbaren Verbindung, "die zwischen einem Autor und den in seiner literarischen Darstellung geschilderten Ereignissen tatsächlich (besteht)", wie James E. Young in seiner Untersuchung "Beschreiben des Holocaust" "mit aller Deutlichkeit" unterstreicht. Dieser "ontologische Unterschied" wird bei Jacob zwar erwähnt, in seinem Text aber verwischt.

Damit nährt er Befürchtungen wie die von Julius H. Schoeps: "Das wirklich Tragische an dem Fall Wilkomirski ist der angerichtete Schaden", betont der Direktor des Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien: "Mißtrauen wurde dort gesät, wo es gerade darauf ankommen würde, Glaubwürdigkeit zu vermitteln. (...) Die Zeugnisse der Überlebenden gelten nicht mehr als Zeugnisse, sondern nur noch als Texte, die man nach literarischen Kriterien prüft - ob sie der Wirklichkeit entsprechen oder nicht, wird zweitrangig."

Vielleicht sind die "Bruchstücke", trotz alledem, autobiographisch verbürgt. Vielleicht sind sie willentlich gefälscht, vielleicht hat sich der Autor in ihnen auch unbewußt in einem zweiten Ich imaginiert. Mit dem Angriff Jörg Laus auf die "reflexhafte" Betroffenheit derer, die mit dem Grauen überhaupt noch sich befassen, wird bei Lau reflexhaft das altneue Feindbild reaktiviert: "Wilkomirski ist ein Virtuose darin, die aus dieser Haltung entspringende Unsicherheit auszunutzen."

Nur Wilkomirski? Wird unsere "Betroffenheit" nicht auch von Goldhagen, Bubis und dem American Jewish Committee geradezu virtuos "ausgenutzt"? Bei Jacob werden Betroffen- und Ergriffenheit hingegen mit dem falschen Argument verteidigt, daß es im Grunde zweitrangig sei, ob der "autobiographische Pakt" zwischen Autor und Leserschaft weiterhin Gültigkeit beanspruchen kann. Seitdem Auschwitz in eine Konsumware verwandelt wurde, "deren Tauschwert sich mittlerweile in der Hollywoodschen Oscar-Statue verkörpert", so Moshe Zuckermann, ist es demgegenüber dringlicher denn je, "die Grenzen minimalen Respekts vor dem Übergang von der Wirklichkeit zur Fiktion bzw. von der Fiktion zur Wirklichkeit" zu verteidigen. Bestenfalls hierfür ist der "Fall Wilkomirski" ein Beleg.

Binjamin Wilkomirski: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939 bis 1948. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1997, 140 S., DM 12,80

Der Text von Matthias Küntzel enthält Argumente, die von einem Teil der Redaktion für bedenklich gehalten werden. Wir werden uns in der nächsten Ausgabe damit auseinandersetzen. (Red.)