Dad’s Not Coming Out

Brit-Pop war vielleicht nicht immer out, aber schon immer schwul - die Songs von No'l Coward auf dem Sampler

"Die BBC gab im Savoy eine grandiose Geburtstagsparty für mich. Mein Geburtstagslunch wurde von der geliebten Queen Mom im Clarence House ausgerichtet, die mich während des Essens fragte, ob ich Mr. Wilsons Vorschlag, zum Ritter geschlagen zu werden, annähme. Ich küßte ihre Hand und sagte mit erstickter Stimme: 'Ja, Ma'am.' Davon abgesehen war mein 70. Geburtstag ohne Ereignisse."

Als der britische Schauspieler, Dramatiker, Autor und Sänger No'l Coward (1899 bis 1973) diese Zeilen 1970 in sein Tagebuch schrieb, erlebten seine Stücke in Großbritannien gerade ihr erstes Revival. Theater spielten No'ls Boulevardkomödien vor ausverkauften Häusern, seine Songs wurden wiederentdeckt, und die BBC sendete eine ganze Coward-Reihe, die sich als Straßenfeger erwies. "Dad's Renaissance", wie Coward die Ereignisse noch in seinen letzten Lebensjahren ironisch kommentierte, könnte nun mit dem CD-Sampler "Twentieth Century Blues. The Songs of No'l Coward" eine Neuauflage erleben. Insbesondere auf dem europäischen Festland ist der Künstler eher dem Namen nach bekannt.

Neil Tennant von den Pet Shop Boys hat die CD produziert. Die Interpreten Sting, Paul Mc Cartney, Bryan Ferry, Robbie Williams, Elton John und andere Plattenmillionäre verzichteten großzügig auf ihre Gage, insgesamt also "beste Voraussetzungen für eine Produktion, die die Dekadenz, den Biß, die Melodien und die großen Gefühle der besten Coward-Songs kongenial in die Jetztzeit übersetzen", wie die EMI-Pressestelle frohlockt. Weil der gute Zweck nicht fehlen darf, Aids eine schlimme Krankheit ist, und Schwule ja sonst nur schreckliche Musik hören, hat EMI sich zusätzlich die Londoner Red Hot Aids-Stiftung an Land gezogen. Eine Zusammenarbeit, die in den letzten Jahren wiederholt CD-Veröffentlichungen mit beachtlichem künstlerischen Ergebnissen hervorgebracht hat, man denke nur an das hörenswerte Jazz-meets-Hiphop-Album "Stolen moments" von 1994.

Nun also haben "Pop-Urvater" Coward und Pet-Shop-Tennant, "sein Bruder im Geiste" (EMI), künstlerisch zusammengefunden und das Ergebnis beweist, daß Brit-Pop zwar nicht immer "out", aber immer schon schwul war. Vorausgesetzt man ist bereit, den von Tennant mitverantworteten immergleichen Plastiksound der Pet Shop Boys (laut Pressetext "exakte Skizzen der Befindlichkeiten am Ende des 20. Jahrhunderts") mit einer sexuellen Identität in Verbindung zu bringen. Überdies hatte Coward, anders als Tennant, unter Bedingungen zu arbeiten, in denen Schwul-Sein noch nicht als schick galt, erst recht nicht bei Plattenbossen und Theatermanagern.

Homoerotisches Begehren mußte Coward in seinen seit den zwanziger Jahren entstandenen Arbeiten stets sorgsam verpacken. Nur einmal machte er, in dem Bühnenstück "Semi-Monde", seinem Nachnamen keine Ehre: Es wurde 1926 wegen "zu offensichtlicher homosexueller Charaktere" prompt verboten und konnte erst 1977, posthum, aufgeführt werden. In seinen Songs hat Coward es stets bei einer undeutlichen Sehnsucht belassen.

Es spricht für die CD, daß alle InterpretInnen Cowardscher Melancholie auf der Spur geblieben sind, selbst da, wo der Text vordergründig Ironie verheißt. So etwa in "Parisian Pierrot" (Texas),

einer Momentaufnahme der Berliner Schwulenszene von 1922 oder - wie schon aus dem Titel erahnbar - in Stücken wie "Someday I'll Find You" (Shola Ama & Craig Armstrong), "I'll See You Again" (Bryan Ferry) oder "I'll Follow My Secret Heart" (Sting): Großeinsatz für Streicher, die minutenlang schicksalsträchtige Tonfolgen rauf- und runterächzen, als gelte es, alte Möbel in den dritten Stock zu hieven. Selbst die meeresrauschende Strandidylle, mit der die Pet Shop Boys ihre Version des 1949 geschriebenen Songs "Sail Away" beginnen lassen, täuscht. Das Hörbild zerknautscht und morphiert, es geht um eine gescheiterte Beziehung und den Wunsch nach einem Neuanfang: "When the Lovelight is fading/In your sweetheart's eyes/ Sail away/ Sail away".

Ein Ratschlag, den Coward gut zehn Jahre später selbst befolgte. Nicht gerade auf dem Tiefpunkt seiner Karriere flüchtete er aus dem für ihn spießigen London, um den Rest seines Lebens auf Jamaika zu verbringen, frei von gesellschaftlichen Konventionen, die ihm das Leben in seiner Heimat zur Hölle machten. Um das seelische Gleichgewicht des Künstlers war es ohnehin nie zum besten bestellt. Sein Leben lang plagten ihn Nervenzusammenbrüche, mal ausgelöst durch die Einberufung zum Militär, mal durch Versagensängste und gescheiterte Beziehungen.

Unablässig hangelte sich Coward von einer Lebens- und Schaffenskrise zur nächsten, und doch gelang es ihm immer wieder, beim Publikum ganz oben zu sein. Der Widerstreit zwischen der Homosexualität und seinen stockkonservativen Überzeugungen mögen einiges zu seinem dauerhaften Unbehagen beigetragen haben. Was Coward keineswegs davon abhielt, ein Spottlied auf die erste Wahl einer Labour-Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg zu verfassen. "There are bad times just around the corner", intoniert Ex-Take-That Robbie Williams auf der CD. "Das läßt sich auch als Kommentar auf Tony Blairs Labour-Sieg im Vorjahr lesen", schlägt sich die EMI- Presseabteilung ungefragt ins politische Gestrüpp.

Der Aufschwung kommt mit dem neunten Titel. Als Brecht/Weill-erprobte Kratzbürste haucht Marianne Faithfull ein "Mad about the boy" das man ihr sofort abnimmt, und spätestens wenn - wer sonst? - Elton John den finalen "Twentieth Century Blues" anstimmt, ist die Pause für die Blechbläser endgültig vorbei. Davor hat der britische Fernsehkomiker Vic Reeves eine gewisse Mrs. Worthington angefleht, ihrer allzu zartbesaiteten Tochter eine Bühnenkarriere zu ersparen, derweil Suede ein "Poor little rich girl" bedauert: "Cocktails and laughter/ But what comes after?" Vielleicht der Regierungswechsel? Die Revolution?

Insgesamt liefert die CD ein gutes Dutzend überzeugend interpretierter Coward-Songs. Einzelne Schwachstellen - wie der Instrumentaltitel "London Pride" (Damon Albarn mit einem ungewohnt dürftigen Michael Nyman) - kann man verschmerzen. Irritierend hingegen die Unbefangenheit, mit der Coward kurzerhand zu "Großbritanniens berühmtestem und talentiertestem Sohn" erklärt wird, der "'Britishness' für eine Dekade formulierte" und "die britische Music Hall-Tradition mit reiner US-Geschwindigkeit" aufgepeppt habe. Coward der schwule Dandy, der sich im karierten Dinnerjacket fotografieren ließ und von allen geliebt wurde? Wohl kaum.

Zeitgenössische Kritiker haben Cowards Talent zum Entertainment leidenschaftlich als "Unbritishness" gehaßt und diese Haltung gelegentlich mit dezent plazierten Hinweisen auf Cowards sexuelle Präferenzen unterstrichen.

Coward selbst hat zu seiner Homosexualitiät, von der ohnehin halb London wußte, nie öffentlich Stellung genommen. In der Coward-Biographie schreibt Frances Gray: "Sogar Hinweise auf eine Liebesbeziehung in seinen Tagebüchern sind sorgfältig verhüllt und können problemlos als heterosexuell gelesen werden." Kein Wunder also, daß sich Biographen-Kollege Philip Hoare im Booklet der CD mit einem diplomatischen Sowohl-als-Auch um das Thema herumdrückt. Wenn Hoare hier allerdings einen Coward präsentiert, der einerseits "das Privatleben eines Homosexuellen" gelebt habe, dies aber "sehr offen", dann muß man darin den Versuch sehen, einen Künstler posthum passend zu machen und ihn zu vereinnahmen.

Die gleiche Unbefangenheit mit der man bei EMI schwule Entertainer für die schwule Kundschaft zurechtstutzt, mag auch dafür gesorgt haben, daß der "gute Zweck" dieser CD der Firma nicht allzu gut gerät. Die Zusammenarbeit mit den Aids-Hilfen hat die Plattenfirma bei diesem Projekt jedenfalls so auffällig vermieden, daß man zum näheren Blick auf die Red Hot Aids Organization in London, der die Tantiemen - also nicht die Einnahmen - dieser Aktion zufließen sollen, geradezu eingeladen wird. Es handelt sich um eine "im Medienbereich" kommerziell arbeitende Organisation, deren "Aids-Aufklärung" vor allem im Verkauf von - na? - CD besteht. Chapeau für diese raffinierte Art des Selbst-Sponsorings.

Am Ende ist man hin und her gerissen, aber: eine empfehlenswerte CD mit kleinem Haken. Hätte No'l Coward sein Coming-out geschafft, müßten Popstars heute nicht für Aids-Kranke singen.

"Twentieth Century Blues. The Songs of No'l Coward", EMI