Hollywood? Nej tak!

Regisseur Lars von Trier und die Dogma-Gruppe arbeiten am reinen Kino

Der populärste Däne in Deutschland war bis Ende der achtziger Jahre der Kantinenkoch der Muppet-Show. Sonnenbrillenbewehrte Truthähne entkamen in Blues Brothers-Manier seinem Fleischermesser und flüchteten in das bunte Treiben der Show. Sm¿rebr¿d, der als resolute Autorität inmitten des selbstinduzierten Chaos stand, faßte seine Fähigkeit zum spontanen Zugriff auf absurde Ingredenzien in dem legendären Ausspruch zusammen: "Wir nehmen eine Huhn und tuen es in eine Topf!"

Mittlerweile hat Sm¿rebr¿d aber Konkurrenz bekommen: den Regisseur Lars von Trier, der als prominentester Vertreter des dänischen Films 1996 mit "Breaking The Waves" die begehrte Goldene Palme in Cannes holte. Ein Preis, der für die deutsche Filmförderung schon längst unerreichbar geworden ist. Nicht nur das, über den Belt schallt es: "Gegen das Kino der Illusionen! - Für die Wahrheit!" Ein Regisseurkollektiv mit Thomas Vinterberg, S¿ren Kragh-Jacobsen, Kristian Levring und Lars von Trier attackiert die Traumfabrik zu ihrem 100.Geburtstages mit einem "Dogma 95-Manifest". Sie beschreiben darin ihre Abkehr vom herkömmlichen "künstlichen" Kino und unterwerfen sich freiwillig einem Reinheitsgelübde. Das Wort "kein" dominiert: keine Filmstudios, kein Kunstlicht, keine Filter, keine Trennung von Bild und Ton beim Drehen (damit keine Nachsynchronisation oder nachträgliche Musikuntermalung), kein Wechsel des Drehorts, ausschließlich Handkamera, keine überflüssige Action, keine Morde und Waffen, keine Nennung des Regisseurs im Abspann usw.

Bedeutet das, das Richtige im Falschen zu wagen, oder ist es nur dänische Eigenwilligkeit, die gern gegen den Zeitgeist, also gegen Computeranimationen, Pyrotechnik und teuerste Stunts, die Schlichtheit ins Felde führen möchte?

Ein erster Anhaltspunkt könnten die unter Dogma produzierten Filme sein, doch vorerst gibt es deren nur zwei, und beide sind noch nicht für Kinogänger in Augenschein zu nehmen. Bisher waren sie nur bei den Filmfestspielen in Cannes im Mai dieses Jahres zu sehen. Vinterberg stellte seinen Film "Festen" ("Familienfest") vor. Ein Film, der eindrucksvoll in grobkörnigen Bildern und mit Naturlicht den dramatischen Verlauf eines Familienfestes in Szene setzt, bei dem der Patriarch von seinem Sohn des sexuellen Mißbrauchs bezichtigt wird.

Der zweite Film, "Idioterne" ("Die Idioten"), stammt von Trier und ist eine zynische Abrechnung mit dem bürgerlichen Individuum, das ja vor allem und jedem "vernünftig" zu sein habe. Eine Selbsterfahrungsgruppe versucht, den "inneren Idioten" zu finden und sich darüber zu befreien - auch dieser Film wirkt wie ein selten gut gelungenes Amateurvideo.

Einem Kritiker des Berliner Tagesspiegel gelingt dazu eine für dieses Blatt unglaublich nüchterne materialistische Analyse. Er schreibt: "In Iran, wo der politische Fundamentalismus zum Alltag gehört, blüht seit Jahren ein Kino, dem die von den Dänen so stolz aufgestellten Regeln ohne viel Aufhebens geläufig sind - und es gehört zu den faszinierenden Subtexten dieses Festivals, daß man hier aus der Welt der Schraubzwingen-Erkenntnisse einen Saal weiter in gelösteste Philosophie hinüberwandern kann."

Der Angriff der Dogma Gruppe richtet sich gegen einen "per definitionem dekadenten cineastischen Individualismus". Das Kollektiv möchte die "Wahrheit der Drehorte und der Charaktere" hervorbringen. Sehr ehrenwert, allemal. Der Griff nach der Wahrheit ist diesem Wiedergängertum der Nouvelle Vague und des Cinéma vérité sehr wichtig. Aber bereits der Begriff "Medium" deutet auf eine grundlegende Verobjektivierung des Subjekts hin. Wo hört die Wahrheit auf und beginnt das geniale Trugbild? Es verbleiben maximal glaubwürdige Erzählungen.

Das Kollektiv schaut gelangweilt und angewidert zu, wenn immergleiche Action-Heros von Planet Hollywood gegen austauschbare Meteoriten oder das pure abstrakte computergenerierte Böse kämpfen. Sicher, eine intellektuell biedere Kost, aber der Strudel des THX-Sounds und die schnelle visuelle Schnittfrequenz, dieser ganze Jahrmarkt der Sinne, kann nicht durch kitsch- und kunstfeindliche Dogmen hinwegdekretiert werden.

So ganz ernst meint Trier das sicherlich auch nicht. Ein wenig Exzentrik steht jedem Regisseur von Weltgeltung, und der cineastische Individualismus hat ihn innerhalb der dänischen Filmförderung erst zu dem gemacht, was er heute ist. Der bekennende Hypochonder Trier diplomierte 1983 an der dänischen Filmhochschule und war geradezu besessen von der detaillierten Kontrolle der visuellen Formgestaltung. Gerade ihm wurde in den achtziger Jahren vorgeworfen, daß in seinen Filmen der Gehalt abhanden komme, da er zu formal inszeniere. Seine Bilder haben hypnotische Kraft, ob in "Element of Crime" oder "Medea". Trier entwickelte sich und seine Bildersprache - und verarschte die dänische Filmförderung.

1987 wurde ihm eine Million Mark zur Verfügung gestellt für zwei Filme. Er drehte "Medea", und da waren nur noch 100 000 Mark übrig. "Medea" ist streng konstruierte Fluchtpunktarithmetik mit viel rot-orangenem Nebel und grausamen Bildern. Die notwendigerweise billige Produktion "Epidemic" dagegen enthielt bereits fast alle formalen Merkmale des Dogma-Manifests und dürfte ein Schlüsselfilm in Triers Schaffen sein. Er und sein Partner Niels V¿rsel spielen im Plot des Films zwei Drehbuchautoren, die die wenigen Tage bis zum Rechenschaftsbericht verzweifelt nutzen müssen, da ihnen das Konzept durch eine irrtümlich formatierte Diskette abhanden gekommen ist.

Ein satirischer Film im Film. Die dänische Filmförderung war - wie geplant - entsetzt, und das produzierende dänische Fernsehen lehnt bis heute die Ausstrahlung ab, da "diesem Film auch die technische Qualität fehle, die nunmal Fernsehnorm sei", wie sich Trier erinnert.

Bei Dreharbeiten zu diesem Film in Köln, bei seinem Lieblingsschauspieler Udo Kier hatte er auch sein "deutsches Erlebnis". Von Kopfschmerzen geplagt, parkten sie am Innenstadtring im absolutem Halteverbot. V¿rsel suchte die nächste Apotheke. Zurück blieben Trier und der Kameraassistent, der seinen "Batteriegürtel wie ein mexikanischer Guerillero" trug. Ein Polizist lugte nach wenigen Minuten freundlich lächelnd ins Auto, während die andere Autotür von einem Sondereinsatzkommando aufgerissen wurde. Der Irrtum war zwar bald aufgeklärt, aber erneuerte Triers Reisephobie.

"Epidemic" bereitete das epochale Fernsehwerk "The Kingdom" ("Geister") gewissermaßen vor. Die zweite Ebene des Films erzählt von Mesmer, einem Arzt, der eine Stadt vor tödlichen Viren retten möchte und feststellt, daß er selbst, der gute Mensch, es ist, der die tödlichen Viren verbreitet. Im Königlichen Reichskrankenhaus in Kopenhagen treibt er die Diskussion um die Beherrschbarkeit der Natur durch Wissenschaft bis zum Horror. Lars von Trier entdeckt den Topos des Bösen: "Das Böse bringt mehr Bilder hervor. Das Böse ist visueller als das Gute. Wird das Gute in Bilder umgesetzt, wird es schnell langweilig.(...) Ein Sonnenstrahl über einem Menschen oder einer Situation, und schon wird alles ungeheuer platt und reicht ans Pathetische heran. (...) Mit dem Bösen lassen sich die Fäden besser ziehen." So spricht Lars von Trier 1997 zu "The Kingdom II" ("Geister II", Part 7 bis 12), und die Fangemeinde erschauert erneut über die gruseligen Enthüllungen von Frau Drusse, der dänischen Mrs. Marple.

Wer sich allerdings schon gefragt hat, warum von Triers Fortsetzung der "Geister" dermaßen schlecht ausgeleuchtet daherkommt, teilweise unscharfe Bilder bietet und warum die Kamera unerträglich wackelt, so daß selbst eine Flucht zu Stefan Raab auf Viva wie eine Wohltat wirkt, der darf sich bei der Dogma-Inspiration bedanken: "Lars lädt mich und einige Schauspieler jedes Jahr kurz vor Weihnachten zu sich ein, um einige Szenen zu drehen", erzählt Udo Kier. Das Projekt heißt "Dimensions" und soll im Jahre 2024 in die zukünftigen Projektionsstätten kommen. Von Trier möchte, daß seine Schauspieler "natürlich" altern!