Singsang für die Toten

Anne Michaels Roman "Fluchtstücke" verkündet frohe Botschaften

1949 formulierte Th. W. Adorno im Hinblick auf die ästhetische Verarbeitung des Nationalsozialismus jenen bekannten Einwand, der bis heute zitiert und dessen Inhalt seit Jahrzehnten ignoriert wird: "Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich auf der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben."

Sein Angriff richtete sich gegen die bis dahin tradierte Idee von der Unschuld der Kunst und den Mythos bürgerlicher Kultur, nach dem Kunst bar jeder Verantwortung im Refugium des Schönen, Wahren und Guten imaginiert wird. Seine Provokation wurde jedoch, wie Detlev Claussen in seinem Essay "Die Banalisierung des Bösen" beschrieben hat, innerhalb der öffentlichen Debatte sehr bald um den Stachel ihrer Kritik gebracht. Aus dem ursprünglichen Kontext isoliert, schrumpfte Adornos Bemerkung zu dem populären Verdikt zusammen, wonach das "Gedichteschreiben nach Auschwitz barbarisch" sei. Als Rudiment, als unverstandenes und ungeliebtes Gesetz eines Juden, wurde es ebenso scheinheilig wie folgenlos in die kulturelle Alltagspraxis integriert.

In den Besprechungen von Anne Michaels Roman-Debüt "Fugitive Peaces" - in der deutschen Übersetzung von Beatrice Howeg "Fluchtstücke" - ist auf jenes vermeintliche Lyrik Verbot vielfach und ressentimentgeladen Bezug genommen worden. "Fluchtstücke" wurde von der überwältigenden Mehrheit des Kulturpublikums mit Begeisterung aufgenommen, nicht wenige Kritiker haben den Roman als ästhetische Antwort, wenn nicht gar als endgültige Überwindung ideologiekritischen Denkens gelesen.

Der Romancier und Essayist John Berger schrieb beispielsweise: "Zu jenem Zeitpunkt hörte sich Adornos Aussage richtig an und war wahrscheinlich auch nötig. Nun hat sie sich endlich als falsch erwiesen. In diesem Sinne ist 'Fluchtstücke' das wichtigste, auf wunderschöne Weise wichtigste Buch, das ich in den letzten vierzig Jahren gelesen habe" (Die Weltwoche). "Das Glück ist denkbar nach Auschwitz", schrieb die Welt.

Der Roman der kanadischen Lyrikerin handelt von den Leiden und Traumata der Überlebenden des Holocaust. Es geht um die Biographien einer beschädigten Individualität, um lebenslange Verwundungen und Narben, die sich in den Beziehungen der Opfer, im Familienleben und Alltag der nachfolgenden Generationen fortsetzen. Anders als in den Werken der Überlebenden aber, die sich wie Primo Levi, Jean Améry, Ruth Klüger, Sarah Kofman, Imre Kertész, Jorge Semprœn der literarischen Verarbeitung von Terror und NS-Gewalt gewidmet und über Verfolgung und Verlust geschrieben haben, geht Michaels' Buch nicht auf autobiographische Erfahrungen zurück. Vielmehr gilt ihr Schreiben dem literarischen Einfühlen in die "feinen Linien des Schmerzes, der zärtlich gepflegten Bitterkeit, dem Netz der Absprachen, den kunstvollen Tabus" in einem durch die Erfahrung von Auschwitz geprägten Leben.

Dabei beruht ihre poetische Fiktionalisierung des Holocaust auf ihren Studien des inzwischen umfangreichen Materials der Zeitzeugenberichte, Dokumentationen und KZ-Tagebücher sowie der Aneignung historischer Kenntnisse über die nationalsozialistische Vernichtung des europäischen Judentums. Die Triebfeder ihres Unternehmens liegt aber jenseits aller Vernunft, nämlich in dem frommen Wunsch: "Ich wollte sehen, ob ich in den furchtbarsten Schrecken von allen hinabtauchen und doch am Ende mit etwas wie Vertrauen, wie Glauben wieder an die Oberfläche gelangen konnte. Mit einem Glauben, der nicht nur aus Gewohnheit existiert, der nicht nur behauptet wird, sondern den ich dem Schrecken abgetrotzt habe."

Ihr zweiteiliger Roman "Fluchtstücke" entrollt nacheinander die Lebensgeschichten von Jakob, einem mit knapper Not vor den Deutschen geretteten polnischen Juden, und Ben, dem in Kanada geborenen Sohn jüdischer Holocaust-Überlebender.

Jakob Beer, Dichter und Übersetzer, erlebt als achtjähriger Junge, versteckt in einem Wandschrank, die Ermordung seiner Eltern und die Verschleppung seiner Schwester in ein Lager durch die Nationalsozialisten. Er verbirgt sich in den polnischen Sümpfen nahe der Ausgrabungsstätte von Biskupin, einer im Moor versunkenen Siedlung aus der Eisenzeit, und wird dort von dem griechischen Archäologen Athos, der an der Ausgrabung des "polnischen Pompeji" beteiligt ist, gerettet. Gemeinsam fliehen die beiden auf die griechische Insel Zakynthos im Ägäischen Meer und leben dort im verborgenen bis zum Ende der deutschen Okkupation Griechenlands.

Aus der lebensrettenden Zufallsbekanntschaft wird eine innige Vater-Sohn-Beziehung. Nach Kriegsende übersiedeln sie nach Kanada und verbringen die letzten Jahre bis zum Tod des alten Griechen in einer kleinen Wohnung auf der St. Clair Avenue West, die das griechische und das jüdische Viertel von Toronto verbindet. Jenseits dieser mal zart, mal schwülstig geschilderten Beziehung zu Athos bleibt Jakob jedoch ein kontaktscheuer, schwermütiger Einzelgänger, der die Schrecken seiner Vergangenheit, insbesondere den Verlust der geliebten Schwester, nicht verwinden kann. Bis er sich - spät in seinem Leben und lange nach einer gescheiterten Ehe - nochmals in eine Frau verliebt und nun die "Katastrophe der Gnade", nämlich die Heilung seiner traumatischen Kindheitserlebnisse durch die "Kraft" der weiblichen Liebe erlebt.

Dieser Biographie von Jakob Beer widmet sich, angeregt durch dessen abgeklärte Heiterkeit vor seinem Lebensende, der Forscher Ben, ein früherer Bekannter und Bewunderer des inzwischen verstorbenen Dichters.

Während er sich auf die Suche nach Jakobs Aufzeichnungen macht, setzt er sich mit seiner Familie auseinander, in der die KZ-Erfahrung seiner Eltern zeitlebens durch eine "klamme Stille des Nichtsprechens und des Nichthörens" präsent geblieben ist. Auf der griechischen Insel Hydra entdeckt und liest Ben die Notizbücher seines dichterischen Vorbildes. Dabei gelingt ihm unter dem Eindruck der autobiographischen Schriften von Jakob und im Zuge kathartischer Erinnerungsrituale die lang ersehnte Aussöhnung mit seiner Lebenssituation.

Die breite Resonanz, die das Buch hervorgerufen hat, hängt nicht zuletzt mit seiner idealistischen Grundkonzept und einer Form der "Vergangenheitsbewältigung" zusammen, die sich jenseits eines Bemühens um Reflexion und Erkenntnis eher der poetischen Flucht in die Spiritualität verschreibt. Darin durchaus der christlichen Mythologie mit ihrer Frohen Botschaft der Todesüberwindung verwandt, trifft Michaels' Roman im alltagsreligiösen Kontext auf das ungeheure Bedürfnis ihrer LeserInnen, den Schrecken jenes irreversiblen Zivilisationsbruchs, für den der Name Auschwitz steht, in der Magie ihrer "betörend schönen Bilder" (Süddeutsche Zeitung) zu bannen.

So ist denn in ihrer wortgewaltigen Komposition auch nichts mehr zu spüren von der tiefgreifenden Verunsicherung, die etwa Imre Kertész' eindringliche und nüchterne Feststellung auslöst, daß seit Auschwitz nichts passiert sei, was Auschwitz widerlege.

Dies war auch nicht ihre Absicht - im Gegenteil: "Ich hätte den Roman nie herausgebracht", kommentiert Michaels ihr Buch, "wenn ich nicht selbst mit einem großen Vertrauen in das Gute aus ihm herausgegangen wäre. Ich hätte die Leser nie im Dunkeln allein gelassen." Eine derart allmächtige Fürsorglichkeit spricht jedoch kaum für die Aufgeklärtheit ihres Lesepublikums, sie nährt vielmehr den Verdacht, daß sich ihr vielgerühmter Gesang für die Toten samt eingeflochtenem Diskurs über Erinnerung und Gedächtnis beim genauen Hinsehen nichts weiter ist als die Metaphorik neutestamentarischer Erlösungstheologie. Und sie bestätigt nachträglich Adornos Warnung vor einer kulturindustriellen Aneignung des Holocaust, die geradewegs am Nachdenken vorbei auf die bewußtseinstrübende Produktion von Sentimentalität abzielt.

Anne Michaels: Fluchtstücke. Aus dem Englischen von Beatrice Howeg. Berlin Verlag, Berlin 1997, 366 S., DM 39,80